Märkische Landsitze des Berliner Bürgertums


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Alfred Berliner (1861 bis 1943) und sein Rittergut Schermeisel

Von Hermann Aurich

Die Sterne standen nicht gerade günstig bei meinen ersten Versuchen, die Geschichte ehemaliger Landsitze des Berliner Bürgertums in der Neumark nachzuzeichnen. Zu viele Spuren sind hier, im ländlichen Raum jenseits von Oder und Neiße, verwischt. Zu gründlich hat das Rad der Geschichte (das bekanntlich nicht zurückgedreht werden kann) alles niedergewalzt, was ihm im Wege stand. Schon das Wort „Neumark“, das früher jeder märkische Schuljunge wenigstens schon einmal gehört hatte, bedarf heute einer Erklärung. Denn dass sich die Mark Brandenburg bis zum Jahr 1945 weit über Oder und Neiße hinweg nach Osten erstreckt hat, diese Kenntnis ist aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden. Eben diese Gebiete waren es, die seit alters her als die Neumark bezeichnet wurden, weil sie im Mittelalter erst etwas später als die anderen Teile der Mark in den Herrschaftsbereich der Askanier gelangt waren.

  Viel  später, im 19. Jahrhundert, als es in den Kreisen des Berliner Großbürgertums üblich wurde, sich einen Landsitz zuzulegen, da waren die Orte der Neumark natürlich nicht „erste Wahl“. Zu weit entfernt lagen sie von der Hauptstadt, um jederzeit bequem erreichbar zu sein. Und zu wenig erschlossen waren sie meist, was den zivilisatorischen Komfort angeht, den man auch auf dem Lande nicht missen wollte.

 

Dorf und Gut Schermeisel

Die wenigen Orte in der Neumark, an denen wohlhabende Berliner Bürger ihr Freizeitdomizil begründeten, lagen meist in der Nähe der Bahnlinien. Das Netz der Eisenbahnen hatte dieses Land allmählich, wenn auch immer noch weitmaschig, überzogen und es der Hauptstadt etwas näher gebracht. Zu den Orten, die an das Eisenbahnnetz angeschlossen waren, gehörte ab 1892 Schermeisel im Kreis Oststernberg. Hier gab es ein Rittergut, das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Familie von Kalckreuth gehört hatte. Mit den preußischen Agrarreformen des Freiherrn vom Stein wurden die Rittergüter zu einer frei verkäuflichen Handelsware. Die Kalckreuths trennten sich von ihrem Rittergut, und für Schermeisel begann eine Geschichte mehr oder weniger rasch wechselnder Besitzer. Im Jahr 1828 gehörte das Rittergut einem Major von Seidlitz, 1836 einem Herrn Schindler und um 1843 Carl Rudolph Bohtz. 1857 und 1863 war ein Dr. Michgrovius der Besitzer, und für 1870 ist „Frau Hauptmann von Breugel“ als Besitzerin verzeichnet. In der Ausgabe von 1879 des „General-Adressbuchs der Ritterguts- und Gutsbesitzer im Deutschen Reiche“ ist dann Clifford Kocq von Breugel als Besitzer des Ritterguts Schermeisel verzeichnet, vielleicht ein Sohn der Frau Hauptmann.

Besonders aktuell scheint dieses Adressbuch nicht gewesen zu sein, denn eine andere Quelle gibt an, dass schon zwei Jahre zuvor, also im Jahr 1877, Dr. Albin Oscar Hegewald das Gut erworben haben soll. Hegewald war der erste, in dessen Händen das Rittergut nun wieder für einen längeren Zeitraum bleiben sollte. Er war auch der erste, von dem wir etwas mehr als nur den bloßen Namen wissen.

Albin Oscar Hegewald war 1847 oder 1848 in Plauen als Sohn eines Beutlers geboren, besuchte das Thomas-Gymnasium in Leipzig, studierte und wurde zum Dr. phil. promoviert. 1877 wurde er Diakon in Borna. Noch im gleichen Jahr hat er die gerade erst begonnene theologische Laufbahn schon wieder beendet und das Rittergut Schermeisel erworben, wo er sich für fast dreißig Jahre als Gutsherr niederließ (Reinhold Grünberg: Sächsisches Pfarrerbuch, II. Teil, 1. Abteilung; Freiberg i. Sa. 1940, S. 318).

Es war damals sicherlich sehr ungewöhnlich, dass der Sohn eines Handwerkers ein renommiertes auswärtiges Gymnasium besuchen konnte. Auch das anschließende Studium, abgeschlossen mit einer Promotion, war damals eine recht kostspielige Angelegenheit. Noch weit ungewöhnlicher war es jedoch, wenn ein junger Mann aus Handwerkerkreisen eine  Laufbahn einfach abbrach, die ihn deutlich aus dem Milieu seiner Herkunft herausheben würde. Offenbar verfügte er über die Mittel, in die noch attraktivere Existenz eines Gutsherrn zu wechseln. Würde man darangehen, diesen bemerkenswerten Lebensweg zu erforschen, so würde man wahrscheinlich zu interessanten Erkenntnissen vorstoßen. Das würde uns jedoch von unserem eigentlichen Thema ablenken, dem wir uns jetzt wieder zuwenden wollen.

Nachdem Oscar Hegewald im Jahr 1905 verstorben war, übernahm seine Tochter Irmgard  das Gut. Es hatte beim Tod des Vaters eine Größe von 1710 ha. Bei dem Eigentumswechsel vom Vater zur Tochter scheinen fast zwei Drittel der Gesamtfläche des Gutes verkauft worden zu sein, darunter nahezu der gesamte Gutswald. Vielleicht war dies notwendig, um die Ansprüche weiterer Erben befriedigen zu können. Den ihr verbliebenen Rest verpachtete Irmgard Hegewald an Otto Manz. Dieser scheint das Gut später auch selbst käuflich erworben zu haben, denn im „Handbuch des Grundbesitzes“ von 1910 wird er als Besitzer genannt. Allerdings sind die Daten für dieses Handbuch offenbar bereits im Verlauf des Vorjahres 1909 erhoben worden, denn bereits im Sommer 1909 hatte die Pommersche Ansiedlungsgesellschaft das Gut erworben mit dem Ziel der Parzellierung und des Verkaufs an Siedlungsbewerber. Frühestens im Oktober 1910 wurde das Restgut erneut verkauft, diesmal an Dr. Alfred Berliner.

Innerhalb vom sechs Jahren fand also ein viermaliger Besitzerwechsel statt (von Oskar zu Irmgard Hegewald, von dieser zu Otto Manz, von diesem zur Pommerschen Ansiedlungsgesellschaft und von dieser zu Alfred Berliner). In dieser Zeit scheint es nicht nur zu flächenmäßigen Veränderungen gekommen zu sein (teils vielleicht auch durch Neuvermessung). Auch der Grundsteuer-Reinertrag (GRE), ein Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Gutes, änderte sich mehrfach. Vermutlich hat es längere Auseinandersetzungen um eine Neuveranlagung gegeben. In den Güteradressbüchern werden diese Daten wie folgt ausgewiesen:

Adressbuch

Jahrgang

Fläche (ha)

GRE (Mark)

GRE je ha

Nicolai

1903

1710

11398

6,67

Niekammer

1907

625

9261

14,82

Nicolai

1910

614

7000

11,40

Niekammer

1914

500

4180

8,36

Nicolai

1921

513

3507

6,84

Niekammer

1923

500

4180

8,36

Niekammer

1929

508

4180

8,23

 

Aufgabe der Pommerschen Ansiedlungsgesellschaft war es, zur Aufteilung geeignete Güter aufzukaufen, zu parzellieren und die Parzellen anschließend wieder zu verkaufen (Martin Belgard: Parzellierung und innere Kolonisation der 6 östlichen Provinzen Preußens 1875-1906; Leipzig 1907). In diesem Verfahren war es zweckmäßig, die mit einem Gut verbundenen Patronatspflichten gegenüber der Kirche vor dem Weiterverkauf der parzellierten Ländereien abzulösen. Das Kirchenpatronat umfasste Rechte und Pflichten, wobei den Rechten mit überwiegend immaterieller Natur Pflichten mit überwiegend materieller Natur (insbesondere in Gestalt der Baulast) gegenüberstanden. 

So kam es zur Ablösung des Kirchenpatronats in Schermeisel gegen eine einmalige Zahlung von 8000 Mark, die durch die Pommersche Ansiedlungsgesellschaft an die Kirchengemeinde erfolgte. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen der Ansiedlungsgesellschaft und der Kirchengemeinde Schermeisel war im Januar 1910 getroffen worden, bedurfte aber noch der Genehmigung durch übergeordnete Stellen. Dieses Verfahren zog sich in die Länge, und erst am 4. Oktober 1910 wurde der Kirchengemeinde mitgeteilt, dass die Patronatsablösung nunmehr „von Kirchenaufsichtswegen genehmigt“ worden sei. 

Die Pommersche Ansiedlungsgesellschaft war eine Gemeinschaftseinrichtung der Landkreise der preußischen Provinz Pommern in der Rechtsform einer Genossenschaft. Im Jahr 1909 traten auch sechs brandenburgische Landkreise der Gesellschaft bei. Im Geschäftsbericht heißt es dazu (Geschäftsbericht der Pommerschen Ansiedlungsgesellschaft für das Jahr 1909, Stettin 1910, S. 3f.):

Dieser Beitritt fand seine Begründung in dem von den Herren Ressortministern unterstützten Wunsche des Herrn Regierungspräsidenten zu Frankfurt a. O., daß sich die Pommersche Ansiedlungs-Gesellschaft auch im Frankfurter Bezirke durch Ankauf geeigneter Objekte betätigen möge. Die Ansiedlungs-Gesellschaft hat sich demgemäß auch dazu entschlossen, versuchsweise nach Maßgabe der ihr aus der Provinz Brandenburg zufließenden Mittel Ankäufe in der Provinz Brandenburg vorzunehmen. Den Bemühungen des Landrats des Oststernberger Kreises, Herrn von Bockelberg, ist es zu verdanken, dass im Sommer 1909 das Rittergut Schermeisel, Kreis Oststernberg, zur Besiedlung übernommen wurde.

... Wie schon oben erwähnt, erwarb die Genossenschaft außerdem in der Provinz Brandenburg das im Kreise Oststernberg gelegene Gut Schermeisel an der Bahnstrecke Reppen-Meseritz. Die unmittelbar am Orte gelegene Bahnstation hat den gleichen Namen. Das erworbene Gut bildete bisher einen selbständigen Gutsbezirk, der in früheren Zeiten einen erheblichen Umfang hatte, von dem indessen bereits umfangreiche Waldflächen an den Königlich Preußischen Forstfiskus sowie ein größeres Vorwerk und in den neunziger Jahren einige Rentengüter abverkauft waren. Nach seiner örtlichen Lage ist das Gut vereinigt mit einer großen Gemeinde gleichen Namens, mit der es bis auf das verbleibende Restgut nach durchgeführter Besiedlung vereinigt werden soll.

Der zum Gute gehörige Acker ist zum größten Teil dankbarer warmer Boden, zum Kleinbetriebe sehr gut geeignet. Acker und Wiesen sind in guter Kultur. Die bisher vom Gute betriebene Brennerei soll, wenn möglich, in eine Genossenschaftsbrennerei umgewandelt werden. Vorhanden sind auf der Feldmark umfangreiche und sehr günstig gelegene Ton- und Sandlager. Erstere sind zur Ziegelei und Tonwarenfabrikation, letztere zur Glasfabrikation nach den eingeholten Gutachten vorzüglich geeignet. Auch eine Braunkohlengrube ist auf der Gemeinde-Feldmark vorhanden und im Betriebe.

Vorgesehen war die Aufteilung in 36 Siedlerstellen mit durchschnittlich 17 ha Fläche und ein Restgut von 58 ha (ebd., S. 16f.). Die optimistischen Einschätzungen dieses Geschäftsberichts ließen sich jedoch in der Praxis nicht realisieren, so dass es im Geschäftsbericht für das folgende Jahr heißt:

Bedauerlicherweise mussten wir indes auch im Jahre 1910 erneut die Erfahrung machen, daß sich der Verkauf von Landarbeiterstellen verhältnismäßig am schwierigsten gestaltete. So mußte z.B. der Einteilungsplan von Schermeisel nachträglich eine Änderung erfahren, weil es nicht gelang, die ursprünglich vorgesehene größere Anzahl von Arbeiterstellen zu verkaufen.

Am Ende des Jahres 1910 waren von den nunmehr nur noch 19 geplanten Siedlerstellen drei immer noch unverkauft, wobei das inzwischen an Alfred Berliner verkaufte Restgut nunmehr mit stattlichen 397 ha ausgewiesen wurde (Geschäftsbericht für das Jahr 1910, S. 22f). Erst im Jahr 1912 konnte das Verfahren abgeschlossen werden, wobei die Fläche des Restguts nochmals auf nunmehr 425 ha aufgestockt worden war (Geschäftsbericht für das Jahr 1912, S. 18f.). Das waren mehr als zwei Drittel der ursprünglich von der Ansiedlungsgesellschaft erworbenen Fläche, so dass die Bezeichnung „Restgut“ hier eigentlich nicht zutrifft.  

Herrenhaus und Wirtschaftshof des Rittergutes Schermeisel lagen an der Dorfstraße. Trotz dieses engen räumlichen Zusammenhangs war das Rittergut nicht Bestandteil der Landgemeinde. Wie überall im ostelbischen Preußen bildeten auch in Schermeisel Landgemeinde und Gutsbezirk getrennte Verwaltungseinheiten. Diese Trennung hatte sich nach den Agrarreformen herausgebildet, als der Landadel seine Herrschaftsrechte über die Bauern (und die Bauerndörfer) nach und nach aufgeben musste. Auf ihren Gütern behielten die Gutsbesitzer aber das Sagen, und dieser Herrschaftsbereich wurde durch die Abgrenzung des Gutsbezirks von der Landgemeinde fixiert. Bei dieser Trennung blieb es bis tief in die Zeit der Weimarer Republik, genauer bis zum 30. September 1928. Wirtschaftlich lebten Dorf und Rittergut (oder, verwaltungstechnisch gesprochen, Landgemeinde und Gutsbezirk) in einer Art von Symbiose (siehe „Güter, Dörfer, Gutsbezirke“ auf dieser Website).

Der Gutsbezirk Schermeisel umfasste neben dem Gebäudeensemble rund um Herrenhaus und Gutshof noch weitere Wohnplätze. Aufschluss darüber geben uns die veröffentlichten Ergebnisse der preußischen Volkszählungen. Im Jahr 1871 werden als Wohnplätze des Gutsbezirks Schermeisel mehrere Vorwerke genannt, dazu noch eine Ziegelei, die Braunkohlengrube „Fannys Glück“ und die Schäferei Brückenhof. Im Jahr 1885 wird unter den Außenposten des Ritterguts außerdem noch ein Alaunwerk aufgeführt. Dort lebten damals 34 Personen. Auch das Gelände der Schäferei Brückenhof, das sich am Nordrand der Ortslage befand, scheint damals besiedelt worden zu sein (mit 101 Bewohnern). Zehn Jahre später, im Jahr 1895, wird die Braunkohlengrube schon nicht mehr erwähnt, und die Einwohnerzahl des Alaunwerks ist auf 9 Personen zusammengeschrumpft. Aus diesen Zahlen kann man ablesen, dass offenbar einige ehrgeizige Pläne des damaligen Gutsbesitzers Oscar Hegewald ohne nachhaltigen Erfolg geblieben waren.      

Nachdem Schermeisel 1892 seine Bahnverbindung erhalten hatte, änderte sich auch die wirtschaftliche Orientierung des Gutes; unter anderem wurde eine Molkerei eingerichtet. Aber schon zwischen 1895 bis 1905 wurden die meisten Vorwerke und anderen Außenposten wieder aufgegeben. Nur noch ein oder zwei Vorwerke und die Molkerei blieben übrig. Unter dem Gutsbesitzer Alfred Berliner scheint der Gutswald wieder mehr in die Aufmerksamkeit des Gutsbesitzers gerückt zu sein, 1925 werden ein Forsthaus und ein Waldarbeitergehöft als neue Wohnplätze erwähnt.

 

Bevölkerungsentwicklung

 

 

 

1867

1871

1885

1895

1905

1925

 

Einwohner

Landgemeinde

586

591

563

605

496

 

 

Gutsbezirk

227

206

170

315

335

 

 

gesamt

813

797

733

920

831

972

 

Landgemeinde*

evangelisch

 

503

520

545

451

878

 

katholisch

 

7

5

9

4

54

 

sonst. Christen

 

-

1

8

10

-

 

jüdisch

 

81

37

43

31

28

 

Gutsbezirk

evangelisch

 

199

169

310

321

 

 

katholisch

 

7

1

1

14

 

 

sonst. Christen

 

-

-

4

-

 

 

jüdisch

 

-

-

-

-

 

*1925 einschl. Gutsbezirk

 

In den Bevölkerungszahlen lässt sich ein gewisses Auf und Ab erkennen, wobei die Landgemeinde eher eine fallende, der Gutsbezirk eher eine steigende Tendenz aufweist. Damit fiel Schermeisel nicht aus dem Rahmen der Gesamtentwicklung im preußischen Ostelbien heraus. Die Effekte aus der Rationalisierung der Landwirtschaft auf den großen Gütern (und damit die Freisetzung von Arbeitskräften) wurden weitgehend kompensiert durch die rasche Ausweitung der Veredlungswirtschaft in Form von Brennereien, Molkereien, Stärkefabriken, Sägewerken usw. sowie durch den Ausbau  arbeitsintensiver Saatgutwirtschaft und den Anbau von so genannten Sonderkulturen.

Die erhebliche Zunahme der katholischen Bevölkerung zwischen 1905 und 1925 kann nur aus der Zuwanderung resultieren. Der Einsatz von Wanderarbeitern wurde damals durch staatliche Eingriffe reguliert. Das hat offenbar dazu geführt, dass ein Teil der (überwiegend polnischen bzw. katholischen) Wanderarbeiter in Schermeisel ansässig wurde.

Die Abnahme der jüdischen Bevölkerung ist vermutlich teils auf Abwanderung, teils auf Übertritte zu christlichen Religionsgemeinschaften zurückzuführen. Im Jahr 1855 hatte Schermeisel noch 177 jüdische Einwohner (von insgesamt 847). Dieser hohe Anteil wird darauf zurückgeführt, dass Schermeisel im Jahr 1805 auf Antrag des damaligen Gutsherrn von Kalckreuth zur Mediatstadt in Südpreußen erhoben wurde (Berendts 1997, S. 103). Diesen Status behielt der Ort nach dem napoleonisch-polnischen Intermezzo nicht mehr.

Unter den Einwohnern Schermeisels hatten Zuwanderung und Abwanderung bereits vor 1871 ein erhebliches Ausmaß erreicht. Von den Einwohnern sowohl der Landgemeinde als auch des Gutsbezirks, die 1871 gezählt wurden, war fast die Hälfte nicht dort geboren, sondern von außerhalb zugezogen. Gleichzeitig muss es auch eine erhebliche Abwanderung gegeben haben. Es handelte es sich um eine sehr junge Bevölkerung. Von den Einwohnern der Landgemeinde war 1871 ein Drittel jünger als zehn Jahre, von den Einwohnern des Gutsbezirks war es mehr als ein Fünftel. Bei der Volkszählung von 1871 wurden auch Angaben erhoben, die Rückschlüsse auf den Bildungsstand zulassen, so auch die Zahl der Einwohner, die im Alter von mehr als zehn Jahren nicht lesen und schreiben konnten. In der Landgemeinde war 1871 etwa jeder siebte  Einwohner Analphabet, im Gutsbezirk war es etwa jeder vierte.

 

Haushaltsgrößen und Wohnverhältnisse

 

 

1871

1885

1895

1905

1925

 

Haushalte je Wohngebäude

Landgemeinde*

1,48

2,08

2,17

1,86

1,62

 

Gutsbezirk

2,42

2,92

2,19

1,89

 

 

Personen je Haushalt

Landgemeinde*

4,69

4,23

4,23

3,91

4,12

 

Gutsbezirk

4,48

4,47

4,63

4,79

 

*1925 einschl. Gutsbezirk

 

Diese Zahlen lassen die damals sehr beengten Wohnverhältnisse des größten Teils der Bevölkerung erahnen. Besonders für das Jahr 1885 kann man eine Zusammendrängung vieler Menschen auf engem Raum vermuten. Dieses Jahr fiel in den Zeitraum, in dem Hegewald als Gutsbesitzer große Pläne verfolgte. Bemerkenswert ist, dass nicht nur im Gutsbezirk, sondern auch in der Landgemeinde längst nicht jede Familie ein eigenes Haus bewohnte. 

Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung im ländlichen Raum Ostelbiens war weitgehend abhängig von den Erträgen der Landwirtschaft. Und diese wiederum waren abhängig von der Bodenqualität. Ein Gradmesser für die Bodenqualität  ist der Grundsteuerreinertrag je Hektar, der auch in den amtlichen Statistiken ausgewiesen wurde. Er lag im Jahr 1905 mit 9,46 Mark für die Landgemeinde Schermeisel und mit 9,79 Mark für den Gutsbezirk leicht über dem Durchschnittswert des Kreises Oststernberg von 8,58 Mark.

Der überwiegende Teil der Flächen in der Gemarkung Schermeisel entfiel auf das Rittergut. Im Jahr 1905 betrug die Gesamtfläche des Gutsbezirks  991 ha, während die Fläche der  wesentlich bevölkerungsstärkeren Landgemeinde nur 312 ha umfasste, weniger als ein Viertel der Summe beider Verwaltungseinheiten. Bei einem solchen Vergleich ist allerdings zu berücksichtigen, dass nahezu alle Einwohner des Gutsbezirks in der Land- und Forstwirtschaft arbeiteten. In der Landgemeinde hingegen war ein nicht geringer Teil der Bewohner in Handwerk, Handel, Gaststätten und anderen Bereichen beschäftigt. Auch unterschied sich die bäuerliche Landwirtschaft des Dorfes grundlegend von der Gutswirtschaft, unter anderem durch eine breit gefächerte und arbeitsintensive Tierhaltung.

Welche Bedeutung Handwerk und Gewerbe in Schermeisel gewonnen hatten, lässt sich aus einem gewerblichen Adressbuch für die Provinz Brandenburg (S. 396b f.) ablesen, einem Vorläufer unserer Gelben Seiten, das 1910 von dem Nürnberger Verlag Leuchs herausgegeben wurde. Neben dem Rittergut, dem Bahnhof, dem Post-, dem Telegrafen- und dem Fernsprechamt sind dort aufgeführt: 4 Gasthöfe (darunter 1 mit Brauerei), 3 Spezereiwarenhändler, 2 Bäcker, 2 Fleischer, 2 Schneider, 2 Manufaktur- und Modewarenhändler, eine Sparkasse und je ein Bauunternehmer,  Brunnen- und Pumpenmacher, Häute- und Fellhändler, Holzhändler, Molkerei, Windmühle, Schmied, Schuhmacher und -händler, Steinmetzgeschäft, Tischler, Viehhändler, Ziegelei. Die Gutsmolkerei und die Gutsziegelei sind in diesen Zahlen nicht enthalten.        

 

Alfred Berliner - ein Selbstzeugnis aus dem Jahr 1930

Wenn, wie eingangs angemerkt, die Quellen zur Geschichte der neumärkischen Güter heute nur sehr spärlich fließen, so verhält es sich mit den Quellen zur Lebensgeschichte ihrer Eigentümer auch nicht viel anders. Jedenfalls gilt dies für Alfred Berliner. Immerhin können wir auf eine knappe Veröffentlichung - vermutlich von seiner eigenen Hand - zurückgreifen. Im Band I des „Reichshandbuchs der deutschen Gesellschaft“ aus dem Jahr 1930 findet sich folgende Eintragung (S. 115f):

Berliner, Alfred, Dr. phil., Ingenieur, Rittergutsbesitzer auf Rittergut Schermeisel (Neumark). – Geb. 4.12. 1861 in Breslau als Sohn des Großindustriellen Wilhelm B. und dessen Gattin Rosalie, geb. Leipziger. – Verh. mit Clara, geb. Schmidt. – B. besuchte das Gymnasium in Ohlau und studierte Inge- nieurwissenschaft und Physik an der Bau-Akade- mie in Berlin und an den Universitäten in München und Berlin unter Prof. v. Helm- holtz, sowie in Freiburg i. B. Dort wurde er 1888 zum Dr. phil. promoviert und war als Universitäts-Assistent tätig. Im selben Jahre kam B. auf Veranlassung von Prof. v. Helm- holtz zu Siemens & Halske, fuhr 1891 im Auftrage dieser Firma nach Amerika, wo er die Filialfabrik Siemens & Halske Electric Company of America baute, die er bis 1893 leitete. 1894 übernahm er die Konstruktion von Gleich- strommaschinen und kurz darauf die Leitung des gesamten Verkaufsgeschäfts in Starkstrom. B. führte sodann die Ver- schmelzung der Starkstrom-Abteilung von Siemens & Halske A.-G. mit der Elektrizitäts A.-G. vorm. Schuckert & Co. in Nürnberg zu den Siemens-Schuckertwerken G. m. b. H. durch, und zwar als Vorsitzender des Vorstandes dieser Gesellschaft. Seine Stellung als Direktor bei Siemens & Halske behielt er bei. Nach 25jähriger Tätigkeit trat er 1913 in den Aufsichtsrat der Siemens & Halske A.-G. über, in dem er heute noch wirkt. Außerdem ist B. Mitglied des Aufsichts- rats der Accumulatorenfabrik A.-G. Berlin-Hagen, als dessen Delegierter er im Vorstand dieser Gesellschaft arbeitet, der Elektrische Licht und Kraftanlagen A.-G., sowie Mitglied des Verwaltungsrats der Oesterreich. Siemens-Schuckert-Werke (Wien); ferner ist er stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzen- der der Vereinigten Lausitzer Glaswerke A.-G. (Weißwasser) und der Steffens & Nölle A.-G.; Vorsitzender des Aufsichts- rats der Pertrix Chem. Fabrik A.-G. Berlin, der Ziegeltrans- port-A.-G. Berlin sowie der „Kraft“ Versicherungs A.-G. des Automobilklubs von Deutschland in Berlin; Vizepräsident der Britannia-Batteries  Ltd. London und Vizepräsident und Mitglied des Repräsentanten-Ausschusses des Automo- bilklubs von Deutschland. – Rittergut Schermeisel (Neu- mark) und Berlin-Charlottenburg 2, Knesebeckstr. 98.

 

Andere Quellen

Weitere Einblicke in die Lebensgeschichte dieses Mannes gewähren uns die Erinnerungen seines Großneffen Peter Berling, die 2011 unter dem Titel „Hazard und Lieblos. Kaleidoskop eines Lebens“ veröffentlicht wurden. Allerdings bedarf es einiger Mühe, dort die in den 667 Seiten des Buches verstreuten Informationen über den Großonkel zu finden.

Zeugnisse aus dem Privatleben Alfred Berliners sind naturgemäß spärlicher überliefert als die Informationen aus der beruflichen Sphäre. In verschiedenen Arbeiten zur Geschichte des Siemens-Konzerns wird seine Rolle  gewürdigt. Für unser Vorhaben einer biographischen Skizze wurden die Arbeiten von Georg Siemens: „Der Weg der Elektrotechnik. Geschichte des Hauses Siemens“, Freiburg u.a. 1961, und von Wilfried Feldenkirchen: „Siemens 1918-1945“, München u.a. 1995, herangezogen. 

Über den Vater Alfred Berliners und über seinen ältesten Bruder Theodor finden sich einige sparsame Informationen in der Einleitung, die Robert Suckale für das Buch von Rudolf Berliner: „The Freedom of Medieval Art und andere Studien zum christlichen Bild“, Berlin 2003, geschrieben hat. Zitiert wird hier nach der separaten Internet-Ausgabe des Einleitungstextes „kunstgeschichten.blogspot.de“ (Druckversion).

Otto Berendts, ein Mann der „Bekennenden Kirche“, war ab 1937 Pfarrer in Schermeisel und hat dort Eindrücke von Alfred Berliner als Gutsherr gewonnen. Diese Eindrücke hat Otto Berendts  später im Rahmen von zwei privaten Aufzeichnungen zu Papier gebracht. Eine davon ist im Jahr 1995 entstanden, die andere wurde 1997 niedergeschrieben. Die spätere Ehefrau von Otto Berendts und sein Sohn waren so freundlich, mir Einsicht in diese Aufzeichnungen zu gewähren. Auch im „Haus Brandenburg“ in Fürstenwalde/Spree stehen diese Aufzeichnungen zur Verfügung.

Zu erwähnen ist schließlich noch, dass sich der berufliche Weg Alfred Berliners mit dem Weg eines anderen bedeutenden Mannes der deutschen Wirtschaft, Günther Quandt, gekreuzt hat. Diese Begegnung hat ihren Niederschlag gefunden in einigen Passagen des Buches von Joachim Scholtyseck: „Der Aufstieg der Quandts“, München 2011.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit existieren noch weitere Informationen über Alfred Berliner, die  in verschiedenen Archiven schlummern könnten. Dazu gehört zum Beispiel das Testament des Kaufmanns Wilhelm Berliner (Vater von Alfred Berliner), das heute im polnischen Staatsarchiv Wrocław verwahrt wird. Eine aufwendige Suche nach solchen Beständen konnte jedoch bei der Vorbereitung dieser Skizze nicht geleistet werden. Ein bereits im Internet veröffentlichter Brief des US-amerikanischen Generalkonsuls in Berlin vom 12. Dezember 1938 mag als Beispiel für manches andere, uns noch verborgene, Schriftstück stehen.

 

Die Eltern

Alfred Berliner wurde, wie weiter oben schon zu lesen war, 1861 in Breslau geboren. Dass sein Vater Wilhelm „Großindustrieller“ gewesen sein soll, ist vermutlich zu hoch gegriffen. Zu dieser Zeit war die Industrie Niederschlesiens gerade erst im Entstehen. Wilhelm Berliner war Besitzer einer Ölmühle in Ohlau und gründete dort zwei weitere Betriebe, in denen u.a. Leim und chemische Düngemittel hergestellt wurden (Berling, S. 281; Suckale, S. 2). Daneben tätigte er auch noch Bankgeschäfte, was damals bei Kaufleuten mit einem etwas größeren Aktionsradius nicht ungewöhnlich war.

Wilhelm Berliner übersiedelte zu Anfang der 1870er Jahre nach Berlin, wo er bis 1879 in den Adressbüchern geführt wird, zunächst als „Banquier“ in der Dorotheenstraße 7, ab 1876 dann als „Kaufmann“ in der Friedrichstraße 8. In der Wirtschaftskrise, die bald nach den so genannten Gründerjahren eingesetzt hatte, musste Wilhelm Berliner offenbar schon 1875 sein Bankgeschäft wieder aufgeben. 1878 verlor er dazu noch zwei seiner drei Ohlauer Betriebe (Suckale, S. 2).

Im Jahr 1851 hatte Wilhelm Berliner Rosalie Leipziger, „die Tochter des reichen Samuel Leipziger“ (Berling, S. 228) geheiratet. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, darunter mindestens drei Söhne, die das Erwachsenenalter erreicht haben: Theodor (geb. 1851), Eugen (geb. 1853) und Alfred (geb. 1861). Als der jüngste Sohn, Alfred, zwanzig Jahre alt war, starb Wilhelm Berliner. Seine Witwe zog vermutlich zunächst wieder nach Ohlau, kehrte aber schon 1893 nach Berlin zurück und nahm eine Wohnung in der Winterfeldtstraße 35. Zwei Jahre später übersiedelte sie dann in die Courbièrestraße 12. Diese Wohnung behielt sie, bis sie im Frühjahr 1901 in die Uhlandstraße 173/174 wechselte. Mit diesem Wohnsitz ist sie zuletzt im Jahrgang 1904 des Berliner Adressbuchs verzeichnet. 

Wenn man im Berliner Adressbuch die verschiedenen Wohnsitze von Rosalie Berliner, der Mutter Alfred Berliners, verfolgt, stößt man noch auf eine kleine Überraschung. Im gleichen Haus wie Rosalie Berliner, in der Courbièrestraße 12, wohnte ab 1897 der sonst nirgendwo erwähnte Kaufmann und spätere Handelsgerichtsrat Fritz Berliner. Gemeinsam mit zwei anderen Teilhabern führte er die Papiergroßhandlung Maaß & Röhmann. In welchem Verwandtschaftsverhältnis dieser Fritz Berliner zu Rosalie und zu den anderen Mitgliedern der Familie Berliner stand, müsste noch geklärt werden. Fritz Berliner zog 1910 in die Bismarckstraße 101 und ist unter dieser Anschrift letztmalig 1933 im Berliner Adressbuch aufgeführt.

 

Die Brüder

Nach dem Tod Wilhelm Berliners hatte der älteste Sohn Theodor zunächst die „Fabrik zum Wall“ in Ohlau übernommen, die einzige, die der Familie nach der Krise noch verblieben war. Theodor ging 1898 nach Berlin. Im nächsten Jahr folgten ihm seine Frau und seine beiden Söhne von Ohlau nach Berlin (Suckale, S. 2). Die „Fabrik zum Wall“ in Ohlau führte Theodor Berliner noch bis 1904 von Berlin aus weiter (s. Berliner Adressbuch). 

Sehr erfolgreich scheinen Theodor Berliners geschäftliche Unternehmungen nicht gewesen zu sein, denn bereits im Jahr 1904 wurde er Mitarbeiter im Unternehmen Siemens, wo sein jüngerer Bruder Alfred bereits Karriere gemacht hatte. Theodor Berliner wurde zunächst Prokurist in den Siemens-Schuckertwerken, 1908 dann deren Direktor. 1912 wurde er Direktor der von Siemens übernommenen  Bergmann Elektrizitätswerke AG. Und  nachdem er 1913 auch noch die Leitung der  Akkumulatorenfabrik AFA übernommen hatte, verzeichnet ihn das Berliner Adressbuch von 1914 als „Generaldirektor“. Theodor Berliner starb Ende 1915, nachdem sein ältester Sohn Wilhelm bereits zu Anfang des Ersten Weltkriegs bei Metz gefallen war. In die nun frei gewordenen Positionen bei Siemens rückte sein jüngerer Bruder Alfred ein (Berling, S. 348f.).

Die beiden Brüder Eugen und Alfred Berliner sollten den erstgeborenen Theodor um mehrere Jahrzehnte überleben, wobei es wiederum dem älteren dieser beiden Brüder, Eugen Berliner, bestimmt war, später unter dem Schutzschirm des jüngeren Bruders Zuflucht zu finden. Darauf hatte zunächst gar nichts hingedeutet, denn während Alfred Berliner sich noch im Studium befand, hatte sein Bruder Eugen bereits 1884 in Moskau eine Leimfabrik gegründet. Sein älterer Bruder Theodor und zwei seiner Onkel hatten ihn dabei unterstützt. Mit dieser Gründung verfolgte die Familie den Plan, russische Einfuhrzölle zu umgehen, die den Export der Ohlauer Produkte belasteten (Berling, S. 281f. und 288).

Auf politischen und wirtschaftlichen Druck hin musste Eugen Berliner seine Fabrik in Moskau nach 28 Jahren verkaufen und kehrte 1912 mit seiner Frau, einer Baltendeutschen, in sein Heimatland zurück. Er gedachte, einen beschaulichen Lebensabend in der Universitätsstadt Freiburg zu verbringen. Allerdings hatte er sein Vermögen in russischen Wertpapieren angelegt, die sich spätestens nach der Oktoberrevolution von 1917 als wertlos erwiesen. Im Jahr 1920 ging er mit seiner Frau nach Schermeisel und bezog die im Gutspark gelegene Villa Linderhof als Gutsverwalter.

 

Hochzeit mit Clara Schmidt

Alfred Berliner, der in der Leitung des Siemens-Konzerns fest etabliert zu sein schien, hatte nach dem Erwerb des Ritterguts Schermeisel das Herrenhaus gründlich modernisieren lassen. Umbauarbeiten fanden im Jahr 1917 unter der Leitung des namhaften Architekten Alfred Breslauer statt. Zwischen den Familien Berliner und Breslauer entwickelte sich eine engere Beziehung. Nach dem ersten Weltkrieg studierte ein Neffe Alfred Berliners, Max Berling, in Berlin bei Alfred Breslauer Architektur und arbeitete auch eine Zeit lang in dessen Büro. Ein letztes Mal begegneten sich beide Familien, als Alfred Breslauer, der in die Schweiz emigrieren musste, sein Haus in der Rheinbabenallee im Berliner Südwesten an Alfred Berliners Frau verkaufte. 

Auch den Park in Schermeisel hatte Alfred Berliner nach dem Erwerb des Ritterguts seinen Bedürfnissen entsprechend umgestaltet. Ein besonderes Gewächshaus widmete er seinem Hobby, der Zucht südamerikanischer Orchideen. In dieser Zeit heiratete Alfred Berliner „nach langem Zögern“ seine Jugendfreundin Clara Schmidt, eine junge Frau  „aus bestem Haus“, wie Peter Berling hinzufügt (S. 296f.).

Welches „beste Haus“ hier gemeint ist, konnte ich bisher nicht ermitteln. Einiges deutet darauf hin, dass eine Bertha Juliane Schmidt, geb. Kietzer, die Mutter von Clara Berliner gewesen sein könnte. Diese Frau ist als „Witwe“ bzw. „Rentiere“ im Berliner Adressbuch verzeichnet, und zwar zum ersten Mal im Jahr 1907. Zwischen ihr und Clara Berliner muss jedenfalls eine enge verwandtschaftliche Beziehung bestanden haben, denn sie wohnte nicht nur ab 1920 im gleichen Haus Knesebeckstraße 8/9 wie Alfred und Clara Berliner, sondern zog auch mit diesen zusammen im Jahr 1928 in das gegenüber liegende Haus Knesebeckstr. 98.

Noch eine weitere Verwandte von Clara Berliner, Fräulein Margarete Schmidt, wohnte später zusammen mit dem Ehepaar Berliner im Haus Knesebeckstraße 98 und zog auch  gemeinsam mit diesen in das letzte Berliner Domizil des Ehepaares, das Haus Rheinbabenallee 29/31. Dabei könnte es sich um eine unverheiratete Schwester von Clara Berliner gehandelt haben. Leider ist es mir nicht gelungen, diese Spuren bis zu dem Vater von Clara Berliner oder bis zur Familie Kietzer zu verfolgen.

 

Berufliche Karriere

Der Aufstieg Alfred Berliners vom einfachen Ingenieur zu leitenden Positionen im Unternehmen Siemens hatte mit einem längeren Aufenthalt in den USA begonnen. Was sich in der oben wiedergegebenen Selbstdarstellung aus dem Jahr 1930 so glatt liest (die Gründung und anfängliche Leitung der Siemens & Halske Electric Company of America), hatte sich in Wirklichkeit zu einer Kette von Misserfolgen entwickelt. Georg Siemens schreibt dazu (Bd. I, S. 154f.):

Präsident der Gesellschaft wurde ein Amerikaner namens Meyenburg, Fabrikleiter der bis dahin im Charlottenburger Werk tätig gewesene Dr. Alfred Berliner. Es war noch kein Jahr seit jener Gründung vergangen, als Gerüchte über schwere Unstimmigkeiten zwischen Präsident und Fabrikleiter sowie über geschäftliche Misserfolge nach Berlin drangen. Da ohnehin in diesem Jahre die Weltausstellung in Chicago stattfand, entschloss sich Wilhelm v. Siemens, dorthin zu reisen und nach dem Rechten zu sehen. Er fand eine sehr unerquickliche Lage vor. Die Gesellschaft war Verpflichtungen eingegangen, für die das bescheidene Betriebskapital von 500 000 Dollar bei weitem nicht ausreichte. Meyenburg war eine unbeherrschte Natur, die zu Launen und Gewalttätigkeiten gegenüber dem Personal neigte. Mit Dr. Berliner, der auch nicht gerade konziliant war, hatte es nach kurzer Zusammenarbeit schweren Streit gegeben, im Verlaufe dessen Meyenburg dem Partner kurzerhand den Stuhl vor die Tür setzte.    

Nach Meinung von Georg Siemens hätte Alfred Berliner durchaus die Fähigkeiten gehabt, das Vorhaben zum Erfolg zu führen. Es wurde aber auch versäumt, ihn nach seinem Weggang aus den USA durch eine geeignete Persönlichkeit zu ersetzen (Bd. I, S. 376).

Wenn auch die erste große Aufgabe, die Alfred Berliner im Siemens-Konzern zugewiesen worden war, für ihn nicht gerade zum Gewinn eines Lorbeerkranzes geführt hatte, so gelang es ihm doch in den folgenden Jahren, diesen Fehlstart mehr als wettzumachen. Geben wir dazu wiederum Georg Siemens das Wort (Bd. II, S. 8):

Als Dr. Alfred Berliner im Jahr 1888 als junger Physiker zur Firma Siemens & Halske kam, sollte er wie jeder andere aus dem technischen Nachwuchs bestimmte Einzelfragen behandeln, und so befasste er sich mit Konstruktionsarbeiten, Maschinenberechnungen und Gesamtentwürfen. Obschon er sich dabei als durchaus fähiger und einfallsreicher Ingenieur erwies, zeigte es sich doch recht bald, dass seine eigentliche Begabung im Wirtschaftlichen und Organisatorischen steckte. So war er nach dem verunglückten amerikanischen Debüt alsbald in die „Abteilung für Beleuchtung und Kraft“ geraten und wurde schon 1896 ihr Leiter. Seitdem hatte er das Starkstromgeschäft fest in der Hand und damit praktisch die Firma überhaupt. [...] und in den Verhandlungen mit Schuckert war er die treibende Kraft, der engste Berater Wilhelm v. Siemens’ bei der Formulierung des Fusionsvertrages. Als Vorsitzenden des Vorstandes der Siemens-Schuckertwerke nannte man ihn – nicht offiziell –Generaldirektor, was er ganz gerne hörte [...].

Allerdings stand sich Alfred Berliner mit gewissen Verhaltensweisen oft selbst im Wege (ebd., S. 9):

Seine große Begabung stand außer allem Zweifel, und Wilhelm v. Siemens wusste sie wohl zu schätzen. Aber mit fortschreitender Zeit stieß er sich mehr und mehr an gewissen Kanten im Wesen seines Mitarbeiters. Den Untergebenen gegenüber war Berliner meist kurz angebunden und häufig genug grob, aber stets gerecht, wie immer wieder betont wurde. Gleichgestellten oder Übergeordneten gegenüber aber konnte er schnoddrig werden bis zur Impertinenz, und manche seiner Kollegen glaubten seine Art kaum noch ertragen zu können.    

War die Fusion mit den Schuckert-Werken im Jahr 1903 durch Alfred Berliner zu einem Meisterstück gestaltet worden (Berling, S. 295), so plante er sieben Jahre später die Übernahme des nächsten Konkurrenten. Neben den Schwierigkeiten, die ein solches Vorhaben an sich schon mit sich bringt, musste Berliner noch ein weiteres Problem im Auge behalten. Relativ unkompliziert wäre es gewesen, Übernahmen durch die Ausgabe neuer Aktien zu finanzieren. Da jedoch die Familie Siemens ihre beherrschende Stellung im Unternehmen nicht geschmälert sehen wollte, erfolgte statt dessen die Ausgabe von Anleihen. Dadurch drohte eine Schieflage im Verhältnis von Aktienkapital und Verbindlichkeiten einzutreten, und es war absehbar, dass die Börse, je länger, je weniger bereit sein würde, diesen Weg mitzugehen (Feldenkirchen, S. 534). 

Diesmal ging es um die Übernahme der Bergmann Elektrizitätswerke AG. Die zähen und aufreibenden Verhandlungen mit dem Geheimen Baurat Sigmund Bergmann und die laufend erforderliche Rückkopplung mit den Vertretern der Siemens-Familie strapazierten nicht nur die Nerven des Verhandlungsführers, es kam auch zu Verwerfungen im Verhältnis von Alfred Berliner zum Hause Siemens. Die Folge war ein Nervenzusammenbruch, der ihn für Monate arbeitsunfähig machte (Siemens, Bd. II, S. 10).

Alfred Berliner schied aus dem Vorstand der Siemens-Schuckertwerke aus und trat in den Aufsichtsrat über. Dieser Schritt „wurde allgemein und mit Recht als ein ehrenvolles Begräbnis angesehen“ (ebd., S. 8). Ein vollständiger Rückzug vom Alltagsgeschäft mit knapp über fünfzig Jahren hätte allerdings dem zupackenden Wesen Alfred Berliners nicht entsprochen. So lag es im beiderseitigen Interesse, die Fähigkeiten dieses Mannes an einer weniger exponierten, aber dennoch sehr wichtigen Stelle des Unternehmens weiterhin einzusetzen. Alfred Berliner wurde zum „Delegierten des Aufsichtsrats“ im Vorstand der Akkumulatorenfabrik AFA. Bald sollte sich zeigen, dass dieses Unternehmen für die Ausrüstung der U-Boote von entscheidender Bedeutung war.

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs blieb Alfred Berliner im Vorstand der AFA tätig. Dort wurde er, der Experte für die Übernahme anderer Unternehmen, mit einem Mann konfrontiert, der sich auf diesem Feld bald als ebenbürtig erweisen sollte. Dieser aufsteigende Stern am deutschen Unternehmerhimmel hieß Günther Quandt. Dem Textilunternehmer aus Pritzwalk gelang es mit Unterstützung durch Jakob Goldschmidt, den Chef der DANAT-Bank, in den Inflationsjahren 1922/1923 die Aktienmehrheit an der AFA zu erwerben. Deren Aufsichtsratsvorsitzender, Carl Fürstenberg, der Senior unter den großen deutschen Bankiers, musste seinen Hut nehmen, gleich ihm noch drei weitere Mitglieder dieses Gremiums. Ähnlich wie der in der Öffentlichkeit damals noch stärker wahrgenommene Hugo Stinnes, galten Quandt und Goldschmidt mit ihren gelegentlich waghalsigen Methoden als Vertreter eines neuen Stils in der Geschäftspolitik. Damit hatten sie sich bei der AFA gegen den „vornehmen Bankier und Wirtschaftsbürger alter Schule“ durchgesetzt (Scholtyseck, S. 119-122).

Während Carl Fürstenberg und andere das Schiff AFA verlassen mussten, blieb Alfred Berliner an Bord. Das spricht nicht nur für die Fähigkeiten, die er bei der Leitung des operativen Geschäfts bewiesen hatte, sondern auch für seinen Realitätssinn in der vorausgegangenen Übernahmeschlacht. Günther Quandt erkannte in Alfred Berliner, der „seine Verkäufer und Ingenieure mit harter Hand“ führte (Scholtyseck, S. 122), den Mann gleicher Gesinnung.

Diese harte Hand bekamen auch andere zu spüren. In den Produktionsstätten der AFA kam es durch den Umgang mit Blei bei Arbeitern, die ständig mit diesem Material in Berührung kamen, zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen. In nicht wenigen Fällen endete das mit der Entlassung von Arbeitern, die diese Arbeiten nicht mehr ausführen konnten. Auf Unterstützung durch den Betrieb konnten die Betroffenen selbst dann nicht immer rechnen, wenn sie langjährig in der AFA gearbeitet hatten. Alfred Berliner bestritt sogar, dass es überhaupt Bleikranke gebe. Auch behauptete er, kein Arbeiter sei während der Krankschreibung entlassen worden, was jedoch widerlegt werden konnte (Scholtyseck, S. 331f.).

Unzweifelhaft hat Alfred Berliner einen großen persönlichen Anteil am Aufstieg des Siemens-Konzerns zur Weltbedeutung gehabt. Insbesondere die Fusionen mit Schuckert und Bergmann, die den Weg des Hauses Siemens wesentlich mitbestimmt haben, erregten lebhaftes Interesse bei den Zeitgenossen. Selbst Lenin, der im Frühjahr 1916 in seinem Schweizer Exil eine Studie über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ verfasste, hat diese Vorgänge zur Untermauerung seiner Thesen verwendet. 

Den Vorstand der AFA verließ Alfred Berliner 1933 im Alter von 71 Jahren. Angesichts seines Lebensalters scheint dies ein ganz normaler Vorgang gewesen zu sein. Ob Günther Quandt, der damals die AFA führte, bei dieser Gelegenheit auch von der Absicht geleitet wurde, die Liste der Mitglieder von Aufsichtsrat und Vorstand um einem jüdischen Namen zu bereinigen, muss dahingestellt bleiben. Ein anderer leitender Mitarbeiter Günther Quandts, Alfred Haymann, hat später bezeugt, dass Quandt „Alfred Berliner als Techniker und Menschen zeitlebens geschätzt und ihm bis zu seinem Tod ... die Pension weitergezahlt“ habe (Scholtyseck, S. 315). Seine Aufsichtsratsposten bei der AFA und bei Siemens verlor Alfred Berliner erst 1935 bzw. 1937. Sein Ausscheiden aus den Aufsichtsräten musste unter diesen Umständen ebenfalls als normal erscheinen. Andererseits wäre wegen des fortschreitenden antisemitischen Drucks ein weiteres Verbleiben Alfred Berliners wohl auch kaum möglich gewesen.

 

Häuser und Wohnungen in Berlin

Alfred Berliner hatte im Jahr 1904 eine Villa im Grunewald, Beymestr. 23, erworben. Diese Villa verkaufte er 1918 an den Fleischwarenfabrikanten Otto Haake. Welche Gründe dafür ausschlaggebend gewesen sind, wissen wir nicht. Haake gehörte übrigens zu jenen Geschäftsleuten im Umfeld des Berliner Zentralviehmarkts, die im Ersten Weltkrieg aus der Nahrungsmittelnot der Bevölkerung genügend Kapital geschlagen hatten, um ihre Wohnung in Berlin O 34 gegen eine Villa im Westen der Stadt zu vertauschen. Manche von ihnen wurden damals sogar zu Rittergutsbesitzern.

Nach dem Verkauf seiner Grunewald-Villa wohnte Alfred Berliner in der Knesebeckstraße 8/9 in Charlottenburg. Während das Ehepaar Berliner sich dieses Haus noch mit mehreren anderen Mietparteien teilen musste, wohnte es ab 1928 in dem nunmehr bezogenen Haus Nr. 98 allein. Es gehörte dem Diplomingenieur Dr. Rudolf Eisner, der selbst eine Villa im Tiergartenviertel bewohnte. Rudolf Eisner war Teilhaber an den Albert Hahn Röhrenwerken, damals ein Großunternehmen in seiner Branche. Ebenso wie Alfred Berliner war Rudolf Eisner jüdischer Herkunft.

 

Dunkle Wolken

Vermutlich hatte sich Alfred Berliner bereits vor 1937 weitgehend auf seinen Besitz in Schermeisel zurückgezogen. Die dunklen Wolken, die sich über dem jüdischen Teil der Bevölkerung zusammengezogen hatten, erreichten ihn aber auch dort. Ein Sohn seines Bruders Eugen, Max Berliner, hatte 1925 sein Architekturstudium abgeschlossen. Einer seiner Lehrer war Alfred Breslauer gewesen. Nach dem Studium war Max Berliner  in das Atelier von Hans Poelzig eingetreten und hatte dort an namhaften Objekten wie der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung gearbeitet. Zu dieser Zeit hatte Max Berliner seinen Namen in „Berling“ geändert und 1929 eine Innenarchitektin aus Hans Poelzigs Atelier geheiratet (Berling, S. 355f.).

Max Berling war im Jahr 1933 mit dem Bauvorhaben „Haus des Rundfunks“ an der Berliner Masurenallee beschäftigt. Als „Halbjude“ durfte er bald die Baustelle nicht mehr betreten. Nach der Gründung der Reichskulturkammer im gleichen Jahr wurde er völlig vom Architekturberuf ausgeschlossen. Sein Onkel Alfred Berliner nahm das junge Paar in Schermeisel auf. Die Villa Linderhof, in der bereits Alfreds Bruder Eugen, der Vater des Architekten, mit seiner Frau wohnte, wurde nunmehr auch zum Domizil des  Architektenpaares. Im Jahr darauf bekam das junge Paar einen Sohn, Peter Berling, dem wir das eingangs erwähnte Buch mit seinen hier zahlreich zitierten Informationen verdanken.

Noch an einer weiteren Stelle des familiären Geflechts erfuhr Alfred Berliner bereits 1933 etwas von dem aggressiven Antisemitismus der Nazis. In München wirkte zu dieser Zeit ein Sohn seines bereits 1915 verstorbenen Bruders Theodor. Dieser Neffe Alfred Berliners, Rudolf Berliner, war Hauptkonservator am Bayerischen Nationalmuseum. Im Juli 1933 wurde er völlig überraschend festgenommen und in das KZ Dachau verschleppt. Der Grund für diesen Willkürakt war vermutlich ein Anwesen im Berchtesgadener Land, das Rudolf Berliner gehörte und auf das Nazigrößen ihr Auge geworfen hatten. Auch wenn es der Familie gelang, den Inhaftierten nach einiger Zeit wieder frei zu bekommen, so kann dies nicht spurlos an Alfred Berliner vorüber gegangen sein. Welche Gefühle und Gedanken diese Erfahrungen bei ihm auslösten, können wir nur vermuten (Suckale, S. 8).

In den letzten Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs war im Rahmen der Kriegsvorbereitungen des NS-Regimes unmittelbar westlich von Schermeisel auf einer Fläche von mehr als 10 000 ha einer der größten Truppenübungsplätze der Wehrmacht entstanden. Ein Schießstand befand sich nur wenig mehr als 1 km entfernt von den Gutsgebäuden. Auch diese unheilvolle Nachbarschaft musste von Alfred Berliner und seinen Angehörigen als bedrohlich empfunden werden. 

 

Pfarrer und Gutsbesitzer

In den 1880er Jahren, nach dem Tod seines Vaters, hatte Alfred Berliner, ebenso wie seine Brüder Theodor und Eugen, den christlichen Glauben angenommen (Berling, S. 280; Suckale, S. 2) Alle drei hatten „nichtjüdische“ Frauen geheiratet. Diese Ehen verliehen den beiden jüngeren Brüdern (der älteste, Theodor Berliner, war bereits 1915 gestorben) später unter der NS-Herrschaft einen gewissen Schutz.

Das ursprünglich mit dem Gutsbesitz verbundene Kirchenpatronat war bereits im Herbst 1910 durch die Pommersche Ansiedlungsgesellschaft abgelöst worden, wie aus den Konsistorialakten zur Parochie Schermeisel hervorgeht (Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin-Brandenburg, Bestand 14/22069). Seitdem wurde die Pfarrstelle, wenn sie vakant geworden war, abwechselnd durch die Kirchenleitung bzw. durch die Kirchengemeinde neu besetzt. Trotzdem hat Alfred Berliner die Pflichten, die ihm als Kirchenpatron obgelegen hätten, stets erfüllt. So bezeugt es jedenfalls der letzte Schermeiseler Pfarrer, Otto Berendts. Bei Otto Berendts ist sogar der Eindruck entstanden, bis kurz vor seinem Amtsantritt habe Alfred Berliner das Kirchenpatronat noch besessen.     

Im Sommer 1910, einige Monate bevor Alfred Berliner das Gut erworben hatte, war die Pfarrstelle durch die Pommersche Ansiedlungsgesellschaft in ihrer Eigenschaft als Kirchenpatronin neu  besetzt worden. Der bei dieser Gelegenheit an die Schermeiseler Kirche berufene Pfarrer Josef Freise war vorher ein katholischer Geistlicher gewesen und erst am 13. März 1910 als evangelischer Pfarrer ordiniert worden. Nach fünfjähriger Amtszeit verließ er Schermeisel und ging nach Heckelberg im Kreis Oberbarnim (Otto Fischer, Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg, Bd. 2, Berlin 1940, S. 217) .

Als nach dem Weggang von Josef Freise im Jahr 1915 die Pfarrstelle wiederum neu zu besetzen war, berief die Kirchenleitung Rudolf Thiem nach Schermeisel. Dieser Pfarramtsbewerber war ein Sohn des Berliner Bildhauers Hermann Thiem. Er hatte in Berlin das Luisenstädtische Gymnasium besucht und an der Berliner Universität studiert. Nach seiner Ordination im Jahr 1913 war er zwei Jahre Hilfsprediger in Neudamm, einer nordöstlich von Küstrin gelegenen Kleinstadt. Bei seiner Berufung nach Schermeisel, mitten im Kriege, war Rudolf Thiem 28 Jahre alt. Wir müssen vermuten, dass er wegen gesundheitlicher Probleme vom Wehrdienst freigestellt worden war. Das würde auch erklären, dass Rudolf Thiem bereits 1924, im Alter von 37 Jahren, als Pfarrer emeritiert wurde (ebd., S. 889). Zur Herkunft von Rudolf Thiem lässt sich nur sagen, dass sein Vater als Bildhauer weitgehend unbekannt geblieben ist. Ein Bildhauer Hermann Thiem lässt sich im Berliner Adressbuch nicht nachweisen. In der Gymnasialzeit Rudolf Thiems wohnte ein Hermann Thiem, dessen Beruf als Küster angegeben wird, in der Wassertorstraße, wenige Schritte vom Luisenstädtischen Gymnasium entfernt. Möglicherweise war es der Großvater von Rudolf Thiem.

Als Nachfolger Rudolf Thiems entschied sich die Kirchengemeinde für Dr. Wilhelm Timm, wiederum einen relativ jungen Bewerber. Dieser war in Bromberg geboren (als Sohn eines Kanzleisekretärs), jedoch, wie schon sein Vorgänger, in Berlin aufgewachsen. Nach dem Besuch des Hohenzollern-Gymnasiums in Berlin-Schöneberg hatte er an der Berliner Universität studiert und war nach seiner Ordination im Jahr 1919 fünf Jahre lang Hilfsprediger in Berlin-Charlottenburg gewesen. Möglicherweise kannten sich Gutsherr und Pfarramtsbewerber bereits aus Charlottenburg. Dr. Wilhelm Timm ging 1930 als Pfarrer an die Oberkirche in Cottbus, wo er noch 1955, bei ihrer Wiedereinweihung nach dem Zweiten Weltkrieg, amtierte (ebd., S. 895).

Auch der nächste, im Jahr 1930 durch die Kirchenleitung berufene Pfarrer kam aus Berlin. Diesmal war es ein schon etwas älterer Herr. Alfred Schmidt wurde mit 60 Jahren Pfarrer in Schermeisel, nachdem er zuletzt 14 Jahre an der Samariterkirche im Berliner Osten amtiert hatte. Alfred Schmidt war in Landsberg an der Warthe als Sohn eines Kaufmanns geboren, hatte in Berlin das Lessing-Gymnasium und anschließend die Universität besucht. Am 1. April 1935 wurde er in den Ruhestand verabschiedet (Fischer, S. 768).          

Festzuhalten bleibt, dass alle drei Pfarrer, die zwischen 1915 und 1930 nach Schermeisel berufen wurden, in Berlin aufgewachsen sind, dort ein Gymnasium besucht haben und ihr theologisches Studium an der Berliner Universität absolviert hatten. Keiner dieser Pfarrer stammte aus einem Pfarrhaus, und sie alle kamen aus der unteren Mittelschicht. Ob dies Zufall war oder ob Alfred Berliner, obwohl er nicht Kirchenpatron war, Einfluss auf die Berufungen genommen hat, muss dahingestellt bleiben.

Nach der Pensionierung des Pfarrers Alfred Schmidt im Frühjahr 1935 kam es für längere Zeit nicht zu einer regulären Neubesetzung der Pfarrstelle. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Das Konsistorium der Kirchenprovinz Mark Brandenburg entsandte nacheinander zwei Hilfsprediger nach Schermeisel, zuerst einen Pastor Suhr und nach ihm den aus Württemberg stammenden Vikar Krieger (Berendts 1997, S. 96).

Während dieser Zeit befand sich die evangelische Kirche in einer tiefgehenden Krise. Die „Deutschen Christen“, eine nationalistische und rassistische Gruppierung, hatte bald nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten versucht, die Kirche auf allen Ebenen von den Gemeinden bis zu den Kirchenleitungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Mit zum Teil rabiaten Methoden und mit Unterstützung durch das NS-Regime war dies an vielen Stellen auch gelungen. Auch das brandenburgische Konsistorium war mehrheitlich auf die Linie der „Deutschen Christen“ eingeschwenkt. Widerstand gegen diese Entwicklung formierte sich frühzeitig und ist mit den Namen Niemöller, Bonhoeffer und anderen verbunden. Auf Initiative von Martin Niemöller wurde ein „Pfarrernotbund“ gegründet. Wenig später entstand die „Bekennende Kirche“ (BK). Ihr Führungsgremium, der „Bruderrat“, verstand sich als die rechtmäßige Kirchenleitung.

Im Oktober 1937 erhielt Otto Berendts den Auftrag, als Hilfsprediger nach Schermeisel zu gehen, wo er im November eintraf. Bereits während seines Studiums hatte er sich der Bekennenden Kirche angeschlossen. Diese war es nun auch, die ihm den Entsendungsauftrag erteilte. Zusätzlich hatte sich Otto Berendts einen solchen Auftrag auch vom Konsistorium besorgt. Diese Doppelgleisigkeit war für ihn eine Frage der Existenzsicherung. Die „Deutschen Christen“ im Konsistorium ließen sich darauf ein, weil sie ihrerseits die Hoffnung noch nicht aufgeben wollten, dass sich der junge Pfarrer eines Tages doch noch auf ihre Seite schlagen würde.

Kurz nach seinem Amtsantritt als Hilfsprediger legte Otto Berendts das zweite theologische Examen vor einem Prüfungsausschuss der BK ab und wurde noch im Dezember 1937 durch die BK zum Pfarrer ordiniert. Am 31. Mai 1938 wählten ihn die Kirchenältesten des Dorfes  Schermeisel und seines Nachbardorfs Grochow zu ihrem Pfarrer. In der geheimen Abstimmung erhielt Otto Berendts eine knappe Mehrheit. Einige Wochen danach heiratete er eine ebenfalls der BK angehörende Theologin, mit der er sich schon fünf Jahre zuvor verlobt hatte. Das junge Paar richtete sich im Schermeiseler Pfarrhaus ein. Wie schon seine drei Vorgänger in der Schermeiseler Pfarrstelle war auch Otto Berendts in Berlin aufgewachsen, hatte dort ein Gymnasium besucht und an der Berliner Universität studiert.

Otto Berendts selbst hat berichtet, dass er beim Einzug mit seiner Frau in das Pfarrhaus (also etwa Juli/August 1938) „eine riesige Bodenvase mit den schönsten Sommerblumen, dazu die seltensten Orchideen“ erhalten hatte, die „der Schlossherr und Gutsbesitzer und bis dahin noch Patronatsherr der Kirche“ geschickt hatte (Berendts 1995, S. 12). Wie wir heute wissen, beruhte diese Annahme auf einem Irrtum.

Unabhängig davon ist es natürlich denkbar, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass Alfred Berliner bei der Besetzung der Pfarrstelle und auch schon bei der Entsendung von Otto Berendts als Hilfsprediger nach Schermeisel nicht völlig übergangen wurde. Alfred Berliner stand zwar persönlich weder dem mosaischen noch dem christlichen Glauben besonders nahe (Berendts 1995, S. 13). Er war aber auf Grund seiner gesamten Berufs- und Lebenserfahrung gewohnt, auf Personalentscheidungen in seinem Umfeld Einfluss zu nehmen. Die Herstellung entsprechender Kontakte (direkter wie indirekter) zwischen Alfred Berliner und führenden Leuten der BK, etwa Dietrich Bonhoeffer, hätte keine Schwierigkeiten bereitet. Beide waren in Kreisen den Berliner Großbürgertums gut vernetzt. Und dass unter den damaligen Zeitumständen die Besetzung der Pfarrstelle sowohl für das dörfliche Umfeld als auch für Alfred Berliner selbst einige Bedeutung haben würde, wird ihm zweifellos bewusst gewesen sein. Auch die Tatsache, dass diese Pfarrstelle nunmehr zum vierten Mal in Reihenfolge mit einem Pfarrer gleicher sozialer Herkunft besetzt wurde, kann möglicherweise auf eine informelle Einflussnahme durch Alfred Berliner hindeuten.         

Obwohl Alfred Berliner mit dem neuen Pfarrer eine gewisse Solidarität verband, die aus der gemeinsamen Bedrohung durch das NS-Regime herrührte, hat sich eine engere persönliche Beziehung zwischen Gutsherr und Pfarrer nicht ergeben. Dem stand die „herrische Art“ Alfred Berliners entgegen (Berendts 1995, S. 13). Um so herzlicher war das Verhältnis, das sich zwischen Alfred Berliners Bruder Eugen, dessen Frau Marie Louise und dem Pfarrerehepaar entwickelte.  

 

Bedrohung in Schermeisel

Schon vor dem Machtantritt der Nazis war es Alfred Berliner gewohnt, auf seinem Gut Schermeisel in einem mehr oder weniger stark antisemitisch geprägten Umfeld zu leben. Der Landbund des Kreises Ost-Sternberg unter der Leitung seines Vorsitzenden Waldemar von Böttinger tat sich in seinem "Nachrichtenblatt" schon lange vor 1933 immer wieder mit judenfeindlichen Beiträgen und Aufrufen hervor, die auch vor offenen Drohungen nicht zurückschreckten. So hieß es etwa am Schluss eines solchen Beitrags (in Nr. 48 des 13. Jahrgangs, Ausgabe vom 5.12.1931): „Die verdiente Abrechnung mit den Volksverderbern wird hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen. Das Volk erwacht!“ 

Anfeindungen durch die aktiven Nazis am Ort waren nicht nur Alfred Berliner und seine Angehörigen  ausgesetzt, sie trafen auch jeden, der mit der Familie Berliner verkehrte, nicht zuletzt Otto Berendts. Mit dem Pogrom vom 9. November 1938 spitzte sich die Lage weiter zu. In der Lokalpresse („Der Ostmärker. Heimatzeitung für das Sternberger Land“), waren jetzt Überschriften zu lesen wie am 10.11.: „Waffenbesitz für Juden verboten.“, „Aus Drossen. Alle männlichen Juden in Schutzhaft genommen“; am 11.11.: „Aus Ziebingen. Die letzten Juden abgereist“, „Aus Drossen. Weitere Judenverhaftungen“; am 19.11.: „Auszug der Kinder Israel“; am 22.11.: „Schermeisel. Neuer Ortsgruppenleiter“; am 26.11.: „Juden dürfen nicht mehr auf die Jagd gehen“.  Am 7.12. meldete diese Zeitung die erste „Arisierung“ einer landwirtschaftlichen Besitzung nach dem Pogrom.

Überall wurden die Wohnungen von Juden durchsucht, angeblich nur nach Waffen. Auf dem Rittergut Schermeisel wurde tatsächlich eine Schusswaffe gefunden. Entgegen der überall sonst üblichen Verfahrensweise wurde dieser Vorfall in der örtlichen Presse verschwiegen, vielleicht ein Zeichen für den Schutz, den Alfred Berliner immer noch an „höherer Stelle“ genoss. Dass wir heute trotzdem Kenntnis von diesem Waffenfund haben, verdanken wir dem US State Department, das vor einiger Zeit im Internet einen Brief veröffentlicht hat, den der amerikanische Generalkonsul in Berlin, Dr. Raymond H. Geist, am 12. Dezember 1938 an seinen Vorgesetzten in Washington gerichtet hat. In diesem Brief heißt es (in deutscher Übersetzung):

Der Ehemann meiner Vermieterin, Dr. Alfred Berliner, 77 Jahre alt, fünfzig Jahre lang einer der führenden Industriellen Deutschlands, Freund Wilhelms II. und Organisator und Erbauer des großen Siemens-Konzerns, wurde mit zwanzig Jahren Konzentrationslager bedroht, weil sein Neffe ein altes Armeegewehr vergessen hatte und es in Berliners Schloss in Schermeisel gefunden wurde. Der alte Mann lebte für mehrere Tage in Angst um sein Leben, bis ich an Göring persönlich über seinen Adjutanten, General von Bodenschatz, appellierte. Gestern rief mich der General zu Hause an (wo ich jetzt für einige Tage krank bin mit einer schlimmen Erkältung) und sagte, der Feldmarschall habe angeordnet, dass keine Maßnahmen gegen Berliner unternommen würden.   

 

Die letzten Jahre

Vermutlich bereits 1936 hatte sich Alfred Berliner von seinem Rittergut trennen müssen (vgl. Gerhard Verworner: Unvergessene Heimat. Kreis Oststernberg, Bad Münstereifel 2003, S. 209), wobei man ihm das Herrenhaus und den Park mit der Villa Linderhof belassen hatte. Nachdem der Druck, der auf Alfred Berliner lastete, auch in Schermeisel mehr und mehr zugenommen hatte, hielt er sich jetzt auch wieder längere Zeit in Berlin auf. Nachdem das von ihm bewohnte Haus Knesebeckstraße 98 im Zuge der „Arisierung“ den Besitzer gewechselt hatte, zog das Ehepaar Berliner in das Haus Rheinbabenallee 29/31. Dieses stattliche Haus hatte Clara Berliner dem jüdischen Architekten und Hochschullehrer Alfred Breslauer abgekauft, der nach Potsdam gezogen war und später von dort aus in die Schweiz emigrierte. 

Alfred Berliner starb 1943 in Berlin bei einem Bombenangriff. Im Jahr zuvor war sein Bruder Eugen hochbetagt in Schermeisel gestorben. Eugens Frau war nach dem Tod ihres Mannes zu ihrem Sohn nach Leverkusen gezogen.

 

 

 

 

 

 

Im Herrenhaus von Schermeisel wurde 1940 ein Erholungsheim für Wehrmachtsoffiziere eingerichtet. Clara Berliner blieb noch einige Zeit dort wohnen, zog sich aber später in die Villa Linderhof zurück. Ende Januar oder Anfang Februar 1945 erreichten sowjetische Truppen Schermeisel. Am 30. Januar war Meseritz besetzt worden, am 2. Februar Zielenzig. Zwischen diesen beiden Städten lag Schermeisel. Peter Berling beschreibt das Ende so (S. 378):

Tante Clara hatte nach dem Tode Alfreds das Gerangel um das Schloss aufgegeben und war in den herrenlosen „Linderhof“ übergesiedelt. Als die Rote Armee einrückt, die sie als Befreier erwartet, baut sich die alte Dame mitsamt Gesinde und den zu ihr geflüchteten Frauen von Schermeisel auf der Freitreppe zum Empfang auf. Jemand öffnet den Hundezwinger, ihr Dackel Suse rennt kläffend auf die Soldaten zu: Die Rotarmisten reißen ihre Kalaschnikows hoch und mähen sie allesamt nieder, Frauen wie Hunde. Schermeisel geht in Flammen auf.

Was auch immer im einzelnen sich abgespielt haben mag, Peter Berling hat die eigentliche Tragik des Geschehens richtig erkannt. Dieser Tag Anfang Februar 1945 hätte an diesem Ort Schermeisel wirklich ein Tag der Befreiung sein können - und ist es nicht geworden. Allerdings ist die hier wiedergegebene - fast filmreife - Version des Geschehens erkennbar erst viel später entstanden. Die als „Kalaschnikow“ bekannte Waffe (nach ihrem Konstrukteur Michail Timofejewitsch K.) wurde erst ab 1949 in den sowjetischen Streitkräften eingeführt. Niemand in Deutschland kannte vorher diesen Namen.        

Die Ehe von Alfred und Clara Berliner war nach allem, was wir wissen, kinderlos geblieben. Die letzten Jahre in Schermeisel und in Berlin müssen eine Zeit wachsender Vereinsamung der beiden Eheleute gewesen sein. Otto Berendts, der Anfang 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde,  hat noch davon berichtet, dass die Größen der deutschen Finanzwelt, darunter auch Hjalmar Schacht, bei Alfred Berliner ein- und ausgegangen sind (Berendts 1997, S. 100). Es ist schwer vorstellbar, dass dies auch später noch der Fall war. Und auf die Vereinsamung folgte das Vergessen. Wie oben gezeigt wurde, ist sein Name auch heute noch in der einen oder anderen Publikation zu finden, ein zusammenhängendes Bild seiner Persönlichkeit wird man jedoch vergebens suchen. Mit dieser Skizze soll der – gewiss unzulängliche – Versuch unternommen werde, dem Vergessen ein wenig entgegenzuwirken.

 

 

 

 

 

 

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letzte Änderung: 18.12.2015