Märkische Landsitze des Berliner Bürgertums


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Die Geschichte des Katharinenhofs in Gransee

 

Inhalt:

1. Die Herkunft von Eva und Katharina Simon

2. Kindheit und Jugend

3. Die Anfänge des Katharinenhofs

4. Der Katharinenhof bis zum Frühjahr 1938

5. Die „Arisierung“

6. Das weitere Schicksal der Schwestern Simon

7. Der Katharinenhof als Landsitz für Rudolf Nadolny

8. Der Katharinenhof in der Zeit nach 1948

Nachwort

 

Die Herkunft von Eva und Katharina Simon

Im 19. Jahrhundert entstanden rund um Berlin verschiedene Obstanbaugebiete, voran bei  Werder an der Havel. Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Gartenbaustandorte war neben geeigneten Bodenverhältnissen und klimatischen Bedingungen in jedem Fall auch eine günstige Verkehrsverbindung zur Hauptstadt. Nur so konnten die empfindlichen Erzeugnisse der Gärtnereien schnell und schonend auf die Berliner Märkte gelangen. Diesen Vorzug genoss zunächst, d.h. vor dem Bau der Eisenbahnen, nur Werder. Theodor Fontane beschrieb in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ anschaulich, wie er bereits als Schüler in der Mitte der 1830er Jahre den Transport großer Mengen frisch geernteter Kirschen auf dem Wasserweg havel- und spreeaufwärts beobachten konnte.

Mit dem Bau der Berliner Nordbahn wurden auch für Gransee die Weichen gestellt (im buchstäblichen Sinn!) für eine erfolgreiche Entwicklung des Obstanbaus. Am 10. Juli 1877 fuhren die ersten Züge zwischen Gransee und Berlin. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Obstplantagen entstanden. Der Kaufmann Wilhelm Gentz aus Neuruppin soll der erste gewesen sein, der 1889 in dieser Gegend mit der Anpflanzung von Obstbäumen begann. In Gransee selbst sind 1897 die ersten Plantagen angelegt worden. Bis zum Jahr 1910 war die Anzahl der Betriebe bereits auf 10 angewachsen.

In den Jahren 1912/13 wurde ein neues Obstgut, der Katharinenhof am Meseberger Weg, angelegt. Es war eine junge Frau, die hier eine Existenz als Obstgärtnerin begründete: die am 25. November 1887 geborene Katharina Theresa Simon. Hilfreich zur Seite stand ihr dabei ihr Vater, der Justizrat Herman Veit Simon, ein wohlhabender jüdischer Rechtsanwalt in Berlin. Katharina Simon war taubstumm, traute sich aber die selbständige Führung eines solchen Unternehmens zu. Und sie behielt Recht, wie der Erfolg in den nächsten 25 Jahren zeigen sollte. Später fand auch ihre ältere, ebenfalls taubstumme, Schwester Eva Aufnahme auf dem Katharinenhof.

Die Schwestern Simon entstammten einer weit verzweigten, hoch angesehenen großbürgerlichen Familie. Ihr Vater war ein herausragender Fachmann des Handelsrechts, dessen Rat auch bei Gesetzgebungsvorhaben eingeholt wurde. In seiner Praxis als Anwalt am Kammergericht war er nicht nur als Prozessvertreter in schwierigen und verwickelten Verfahren gefragt; wegen seiner bekannten Hilfsbereitschaft, seiner Pflichttreue und seiner Charakterstärke wurde er zum vertrauten Berater seiner Mandanten in Verwaltungs-, Vermögens- und Testamentsfragen. Er war Mitglied der Vertretung der jüdischen Gemeinde und Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die sein Vater, der Kommerzienrat Carl Berthold Simon, mitbegründet hatte.

Herman Veit Simon, der Vater der beiden taubstummen Schwestern, trug zusätzlich zum Familiennamen Simon auch noch den Namen Veit. Dies war ein Zeichen für die enge Verbindung der  Familie Simon mit der Familie Veit. Zu dieser Familie Veit gehörte neben anderen bekannten Berliner Persönlichkeiten auch sein Großonkel Moritz Veit. Dieser war ein vielseitiger Publizist, Philosoph und Politiker gewesen. Am 12 September 1808 in Berlin geboren, promovierte er 1833 in Jena. Einige Jahre verbrachte er in Dresden, Heidelberg und Weimar, wo er auch Goethe kennen lernte. Als Zeitungsverleger, Schriftsteller, Abgeordneter und auch als Vorsteher der jüdischen Gemeinde war er in Berlin sehr bekannt. Auch die Gründerin des Katharinenhofs in Gransee, Katharina Simon, hat ihrem Namen gelegentlich den Namen Veit hinzugefügt. Im Geschäftsverkehr trat sie manchmal auch nur unter dem Namen Käte Veit auf.

Eine weitere prominente Persönlichkeit im familiären Umfeld der Simon-Geschwister war der Kultur- und Literaturhistoriker Prof. Ludwig Geiger. Er war mit Hermann Veit Simon befreundet, und beide Freunde hatten Töchter aus der gleichen Familie geheiratet, nämlich aus der Familie Stettiner, die ebenfalls zum Kreis des hoch gebildeten, kunstliebenden jüdischen Großbürgertums in Berlin gehörte. Ludwig Geiger war wohl der bis heute bekannteste Mann aus diesem Umkreis. Kaum eine Publikation über das Berliner Kulturleben  des 19.Jahrhunderts kommt ohne den Rückgriff auf sein wissenschaftliches und publizistisches Lebenswerk aus.

Der Vater von Eva und Katharina Simon starb überraschend schon im Alter von 58 Jahren am 16. Juli 1914, kurz vor dem Beginn des ersten Weltkriegs, während eines Kuraufenthalts im schweizerischen St. Blasien. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee beigesetzt, wo sein Grab noch heute zu finden ist. Am 19. Dezember des gleichen Jahres kamen seine Angehörigen zu einem Familientag zusammen. Hier hielt Ludwig Geiger eine Gedenkrede auf den Verstorbenen. Diese Ansprache, ergänzt um die Gedenkworte, die schon am Grabe Hermann Veit Simons gesprochen worden waren, hat die Familie später als Privatdruck herausgegeben. Ludwig Geiger erinnerte an den ungewöhnlichen Bildungseifer seines Freundes und an dessen großes Interesse für die zeitgenössische Kunst und Literatur. Ludwig Geiger sprach auch davon, dass Herman Veit Simon sich durchaus als Deutscher betrachtet habe, der ein lebhaftes Vaterlandsgefühl besaß und auch betätigte. Diese Wendung mag auf den ersten Blick als ein Zugeständnis an die hurrapatriotische Stimmung in den ersten Kriegsmonaten erscheinen, ist es aber keineswegs. Unter den zahlreichen Todesanzeigen, die am 20. Juli 1914, also noch vor Kriegsbeginn, in der Presse erschienen waren, befindet sich auch die Anzeige eines „Antizionistischen Komitees“, dessen Mitglied und besonderer Förderer Herman Veit Simon gewesen war. Der bekannte Jurist hatte sich also nachhaltig für die Integration der Juden in Deutschland und gegen die Begründung einer jüdischen Heimstatt in Palästina eingesetzt.

Um das Bild des familiären Umfelds, von dem die beiden jungen Frauen Eva und Katharina Simon geprägt wurden, abzurunden, muss schließlich noch eine weitere Persönlichkeit genannt werden. Es ist Richard Stettiner, ein Bruder der Mutter. Dieser war Professor für Kunstwissenschaft in Hamburg, Konservator der staatlichen Kunstdenkmäler, und wirkte an der Seite von Alfred Lichtwark, dem bekannten Pionier der Kunstpädagogik und Direktor der Hamburger Kunsthalle.

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Kindheit und Jugend

In dieser Atmosphäre wuchsen die beiden Schwestern Simon als Kinder und Jugendliche heran, zwar behindert, aber doch empfänglich für vielfältige Eindrücke, die ihnen durch Elternhaus und Verwandtschaft gegeben wurden  So muss in erster Linie die jüngere Katharina zu einer tatkräftigen, selbstbewussten Persönlichkeit gereift sein. Die Eltern werden sich vermutlich frühzeitig dafür entschieden haben, ihren beiden Töchtern trotz der Behinderung eine solide Bildung zu vermitteln. Eva erhielt - wahrscheinlich nicht ohne Fürsprache ihres Onkels Richard Stettiner – eine Ausbildung auf dem Gebiet der bildenden Kunst, verbunden mit einem längeren Aufenthalt in Rom.

Katharina schlug den Weg zum gärtnerischen Beruf ein. Mit dieser Entscheidung befand sich die Familie Simon im Einklang mit einer damals im deutschen Judentum verbreiteten Bewegung, die das Ziel hatte, die einseitige Orientierung auf kaufmännische, intellektuelle oder künstlerische Berufe aufzubrechen. Nachdem im Jahr 1812 für die Juden in Preußen zahlreiche Beschränkungen gefallen waren, sorgte bereits im darauf folgenden Jahr eine „Gesellschaft zur Verbreitung der Handwerke und des Ackerbaus  unter den Juden im preußischen Staate“ für eine beginnende berufliche Umorientierung. Aus dieser Bewegung entstand später ein „Verein zur Förderung der Bodenkultur unter den Juden Deutschlands“ sowie ein „Verein zur Förderung des Handwerks unter den Juden“, der u.a. in Berlin-Pankow ein Lehrlingsheim mit angeschlossenen Werkstätten einrichtete. Auch für die Betreuung Behinderter hatte der „Hilfsverein für jüdische Taubstumme in Deutschland“ ein Netz von Einrichtungen geschaffen.

Es ist aber nicht wahrscheinlich, dass Eva oder Katharina Simon eine dieser Einrichtungen durchlaufen haben. Diese waren eher für die weniger wohlhabenden Kreise gedacht. Im jüdischen – wie im nichtjüdischen – Großbürgertum war es dagegen üblich, dass die Kinder zunächst durch Hauslehrer unterrichtet wurden. So wird es wohl auch bei den Simons gewesen sein. Die anschließende Ausbildung als Gärtnerin könnte Katharina in einem Berliner oder auch in einem auswärtigen Fachbetrieb erhalten haben. Bei den weit verzweigten Verbindungen des Vaters dürfte dies nicht schwer gefallen sein. Gartenbaubetriebe mit fachlich gutem Ruf in der Hand jüdischer Besitzer waren in Deutschland nicht selten. In Ahlem bei Hannover bestand zu dieser Zeit eine israelitische Gartenbauschule, die allerdings Katharina Simon nicht zu ihren Schülern gezählt hat. Im Ahlemer Melderegister taucht ihr Name jedenfalls nicht auf.

Heute lässt es sich nicht mehr feststellen, in welchem Betrieb die Ausbildung erfolgte, aber einiges spricht dafür, dass es eine jüdisch geleitete Gärtnerei gewesen ist. Mit der Beachtung religiöser Vorschriften nahm man es zwar nicht mehr so genau, aber ein Mindestmaß an Regeln wurde schon noch befolgt, und das war in einer jüdischen Umgebung leichter als in einer christlichen.

Eva Simon hat ihren Romaufenthalt wohl spätestens beim Tod ihres Vaters beendet. Wann sie auf den Katharinenhof kam, bleibt ungewiss. Es könnte zur Zeit des ersten Weltkriegs gewesen sein, als die Ernährungslage in Berlin einen solchen Schritt nahegelegt hätte, vielleicht auch erst in der Inflationszeit zu Beginn der 1920er Jahre.

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Die Anfänge des Katharinenhofs

Aus einem Schriftstück vom 31. Juli 1912 zum Bauantrag für den Katharinenhof geht hervor, dass die damals 24jährige Katharina Simon zuvor das aus sechs Flurstücken bestehende Areal am Meseberger Weg erworben hatte. Laut Unterlagen der Familie hatte der Kaufpreis 21 670 Reichsmark betragen. Es war zu dieser Zeit im näheren oder weiteren Umkreis der Hauptstadt nicht ungewöhnlich, dass ein Berliner Rechtsanwalt für sich selbst oder einen seiner Angehörigen ein solches Grundstück erwarb. Der Beruf brachte es mit sich, dass man mit den Verhältnissen auf dem Grundstücksmarkt bestens vertraut war und gegebenen Falls auch eine günstige Gelegenheit nutzen konnte.

Eine Ansiedlungsgenehmigung wurde beantragt und erteilt; parallel dazu wurden die Berliner Architekten Breslauer und Salinger mit der Planung beauftragt. Dieses in Kreuzberg ansässige Büro war vermutlich dem Vater der beiden jungen Frauen aus seiner beruflichen Tätigkeit oder aus der jüdischen Gemeinde bekannt. Alfred Breslauer hatte sich in Berlin u.a. durch den Bau des Geschäftshauses „Polnische Apotheke“ (Friedrichstraße 153a / Mittelstraße) einen Namen gemacht. Dieses in den Jahren 1898 bis 1900 entstandene und bis heute erhaltene Bauwerk ist ein wichtiges Beispiel für die Geschäftshaus-Architektur jener Zeit. Vom Jahr 1904 an war Alfred Breslauer zunehmend auch als Architekt von Landhäusern und Villen hervorgetreten.  

Schaut man heute vom Meseberger Weg auf das Gebäude, so fällt auf, dass an den Mitteltrakt mit seinem charakteristischen Mansarddach auf der rechten Seite ein Flügel angegliedert ist, dessen Gestaltungselemente so gar nicht mit dem Hauptteil harmonieren. Wenn man aber vermutet, dass dieser Flügel erst später hinzugefügt wurde, so wird man durch einen Blick in die Bauakte darüber belehrt, dass beide zusammen errichtet wurden. Vermutlich bot der ursprüngliche Entwurf der jungen Bauherrin nicht genügend Platz, und so wurde in der Bauausführung einfach ein Flügel angesetzt, wohl ohne Breslauer und Salinger noch einmal zu bemühen, jedenfalls ohne den Ehrgeiz, beide Teile gestalterisch aufeinander abzustimmen.

Die Bauunterlagen wurden am 19. Dezember 1912 vervollständigt. In einem Begleitschreiben mit diesem Datum verwendete Katharina Simon zum ersten Mal den Namen „Katharinenhof“. Die Baugenehmigung datiert vom 7. Dezember des gleichen Jahres. Mit den Arbeiten wurde sicherlich erst im darauf folgenden Frühjahr begonnen. Die Akten enthalten einen Vermerk des Wachtmeisters Fahl vom 30. Mai 1913, aus dem hervorgeht, dass die Schlussabnahme noch nicht erfolgen könne, „da nach Angabe des Technikers Brunkow der Bau vor dem 1. August d. J. nicht fertig ist“. Am 20. August 1913 war der insgesamt doch recht stattliche und teure Bau vollendet. Spätestens zur Pflanzzeit im letzten Friedensherbst wird die junge Gartenbauunternehmerin mit der Anlage der Plantage begonnen haben.

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Der Katharinenhof bis zum Frühjahr 1938

Trotz Krieg und Inflation entwickelte sich der Obstbau in Gransee kräftig. Die Zahl der Betriebe stieg von 10 im Jahr 1910 auf 28 im Jahr 1926. Um Absatzschwankungen besser begegnen zu können, wurde eine Verwertungsgenossenschaft gegründet, die 1928/29 am Meseberger Weg Lagerräume errichtete und eine Sortieranlage in Betrieb nahm. 1932 folgte eine Süßmostkelterei. Durch diese Maßnahmen war man nicht mehr vollständig auf den sofortigen Verkauf  des Obstes im Anschluss an die Ernte angewiesen. Auch gelang es dadurch, neue Absatzgebiete zu erschließen. So begann damals die etwa 50jährige Erfolgsgeschichte der Granseer Obstsäfteproduktion.

An dieser positiven Entwicklung nahm der Betrieb von Katherina Simon dank der Tatkraft und Umsicht der jungen Frau teil. Bereits während des ersten Weltkriegs, am 8. Dezember 1916, wurde für 5000 Reichsmark ein zusätzliches Grundstück erworben. Im Herbst 1922 folgte der Bau von zwei Gewächshäusern mit insgesamt 350 m² Fläche für die Produktion von Weintrauben. Schon bald darauf, im Frühjahr 1924, beantragte Katharina Simon die Genehmigung zum Bau eines dritten Gewächshauses, in dem Gurken produziert werden sollten. 1935 schließlich wurde ein Bauschein für einen Schuppen erteilt. Auf dem beigefügten Lageplan ist außerdem noch ein Hühnerstall (für 300 Tiere) zu erkennen, der bereits vor 1932 gebaut worden sein muss.

Auf der Plantage standen 1000 Apfel-, Birnen- und Sauerkirschbäume, 500 Johannisbeersträucher und dazwischen Spargelbeete. Im Haus befanden sich außer dem Wohnbereich für die beiden Schwestern und ihre Gäste noch Büro- und Wirtschaftsräume, Unterkunft für drei Angestellte sowie Stallungen für ein Pferd, eine Kuh und mehrere Schweine. Die Eier wurden zweimal in der Woche nach Berlin gebracht und dort verkauft. Die Kuh diente der Eigenversorgung mit Milch und Butter. Die Tatsache, dass auf dem Katharinenhof auch Schweine gehalten wurden, zeigt, dass die religiösen Vorschriften nicht sehr streng gehandhabt wurden.

Eva und Katharina Simon hatten zwei Brüder, von denen der jüngere allerdings schon im Februar 1914 an den Folgen eines Unfalls gestorben war. Der andere Bruder, Dr. Heinrich Veit Simon, war Rechtsanwalt und Notar in Berlin. Er hatte mit seiner (nichtjüdischen) Frau Irmgard, geb. Gabriel, sechs Kinder. Von zwei dieser Kinder, den Töchtern Ulla und Judith, ist bekannt, dass sie 1932 ihre Sommerferien bei ihren Tanten auf dem Katharinenhof verbracht haben, was durch eine Eintragung in dem erhalten gebliebenen Gästebuch des Katharinenhofs sowie einen ebenfalls noch vorhandenen Brief des älteren Kindes an seine Mutter bezeugt wird. Beide Dokumente geben einen anschaulichen Einblick in das zu dieser Zeit noch unbeschwerte Leben auf dem Katharinenhof.

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Die „Arisierung“

Schon bald nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten begann die Diskriminierung der deutschen Juden und ihrer Angehörigen. Bereits in dieser frühen Phase wurden besonders die in der Landwirtschaft tätigen Juden und ihre Angehörigen zum Ziel von Angriffen, waren sie doch der lebendige Beweis für die Verlogenheit der Blut- und Boden-Ideologie, nach der allein die „arische“ Landbevölkerung die „Volksernährung“ gewährleisten konnte. Schon das Reichserbhofgesetz vom 29. September 1933 nahm für den ländlichen Bereich die zwei Jahre später erlassenen berüchtigten „Nürnberger Gesetze“ in vielfacher Hinsicht vorweg. Noch vorher hatte bereits der Terror gegen einzelne, den neuen Machthabern besonders verhasste Juden begonnen. Sie wurden in manchen Fällen schon im ersten Jahr der Naziherrschaft zur Aufgabe ihres landwirtschaftlichen Besitzes gezwungen. Die Frau von Rudolf Mosse, einem Mitglied der bekannten Zeitungsverlegerfamilie, besaß in Schenkendorf bei Königs Wusterhausen ein Landgut von 371 ha. Rudolf Mosse war ein Förderer der Bestrebungen, die auf eine stärkere berufliche Hinwendung der Juden zur Arbeit in der Landwirtschaft gerichtet waren. Er wurde am 8. April 1933 von SA-Männern verprügelt, die anschließend in sein Haus eindrangen. Er floh daraufhin mit seiner Familie nach Berlin und sah sich gezwungen, das Anwesen noch im August des gleichen Jahres zu verkaufen. Bis in das Jahr 1938 hinein herrschte nun ein System von Diffamierung, Drohung und Erpressung, das zunächst nur gegen einzelne Juden gerichtet zu sein schien, die zur Aufgabe ihres Besitzes gezwungen wurden. Dieses System wurde von einer nicht abreißenden Flut besonders aggressiver antisemitischer Propaganda begleitet. Auf diese Weise wurde der gegen alle Juden gerichtete Druck ständig erhöht.

Das nächste „gesetzliche“ Instrument, das die endgültige Ausplünderung aller in der Landwirtschaft tätigen Juden vorbereiten sollte, war die „Bekanntmachung über den Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken“ vom 26. Januar 1937. Fortan war für alle Käufe und Verkäufe von landwirtschaftlichen Grundstücken eine staatliche Genehmigung erforderlich, die versagt wurde, wenn ein „erhebliches öffentliches Interesse“ dem Geschäft entgegenstand. Schon jede Bekundung einer Verkaufsabsicht konnte nun zum Auslöser von Eingriffen durch staatliche oder Parteidienststellen führen.

Der nächste Schritt folgte mit der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“, die durch Hermann Göring am 26. April 1938 erlassen wurde. Spätestens diese Maßnahme, die mit einer weiteren Welle heftiger antijüdischer Propaganda verbunden war, wurde von vielen Juden als Signal verstanden, das den Übergang zur offenen Beraubung nicht mehr nur einzelner, sondern aller Juden ankündigte. Man kann wohl davon ausgehen, dass der Bruder von Eva und Katharina Simon, der erfahrene Jurist Dr. Heinrich Simon, nun auch den beiden Schwestern dazu riet, den Katharinenhof aufzugeben. Am 30. Mai 1938 wurde das Anwesen verkauft.             

Käufer – und damit der so genannte „Arisierer“ – war ein gewisser Bruno Schumann aus Cöllmen in Ostpreußen. Wie Schumann mit dem Kaufobjekt bekannt wurde, kann nicht mehr geklärt werden. Trotz zunehmender Eingriffe der Behörden in den Grundstücksmarkt war es in manchen Fällen noch möglich, für ein zum Verkauf stehendes Objekt noch selbst Interessenten zu finden. Über die Kaufmotive Schumanns sind wir jedoch recht gut unterrichtet.

Cöllmen (oder Collmen, wie es in manchen Nachschlagewerken heißt), das etwas später in Skollmen umbenannt wurde, lag im Kreis Mohrungen im Westen der Provinz Ostpreußen. Der „Oberamtmann Schumann“ war hier seit mindestens 16 Jahren Pächter des 314 ha großen Ritterguts Collmen und des 118 ha umfassenden Vorwerks Glanden. Beide Besitzungen waren neben 12 anderen Gütern und Vorwerken Bestandteil des Güterkomplexes Prökelwitz. Diese Latifundie stellte wiederum nur einen Bruchteil derjenigen Ländereien dar, die der Fürst zu Dohna-Schlobitten in Ostpreußen sein Eigentum nennen durfte. Schumann hat sich in Gransee offenbar als Domänenpächter ausgegeben, jedenfalls wird diese Bezeichnung mehrfach erwähnt. Vermutlich wollte er damit seine Seriosität unterstreichen, denn die Pächter der Staatsgüter unterlagen einer besonders strengen Auswahl.

Bruno Schumann war übrigens nicht der erste, der in seiner Person eine Verbindung zwischen dem ostpreußischen Prökelwitz und unserer Region verkörpern sollte. In dieser Hinsicht hatte er einen erlauchten Vorgänger. Philipp zu Eulenburg-Hertefeld auf Liebenberg hatte in Prökelwitz im Mai 1886 den Kronprinzen und späteren Kaiser Wilhelm II. kennen gelernt. Beide verband von da an eine intime Freundschaft.

Aus Ostpreußen brachte Schumann seinen Kutscher Otto Reuß und dessen Familie mit nach Gransee sowie zwei Hausangestellte. Außerdem durfte Reuß in Cöllmen eins der etwa 60 Pferde aussuchen und auf den Katharinenhof mitbringen. Bruno Schumann hatte eine Tochter Martha, die in ihrer ersten Ehe den Namen Foth und nach ihrer zweiten Eheschließung den Namen Deußen trug. Aus ihrer ersten Ehe stammte die Enkelin Schumanns, Charlotte Foth, die um das Jahr 1923 geboren war. Martha Deußen und Charlotte Foth lebten schon mindestens seit 1933 in Berlin oder in Hoppegarten. Bruno Schumann empfand eine sehr enge Zuneigung zu seiner Enkelin, die er auch als seine alleinige Erbin einsetzte.

Aufschlussreich ist die Art und Weise, wie Schumann im Frühjahr 1938 seinen Kutscher über die bevorstehenden Veränderungen aufklärte. Die Tochter von Otto Reuß gibt heute diese Äußerung wie folgt wieder: „Kutscher, meine Pachtzeit geht zu Ende. Ich werde mir etwas im Reich suchen, denn wir werden bald Krieg haben. Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen.“ Die Wendung „im Reich“ bezog sich darauf, dass Ostpreußen damals durch den so genannten „polnischen Korridor“ vom übrigen Reichsgebiet getrennt war. Neben der Kriegsfurcht (der russische Vorstoß tief  auf ostpreußisches Gebiet zu Beginn des ersten Weltkriegs war noch in allgemeiner Erinnerung) wird auch die Nähe Gransees zu Berlin bzw. Hoppegarten - und damit zur geliebten Enkelin - bei der Wahl des Zielortes eine Rolle gespielt haben.

Nach Angaben von Irmgard Simon wurde der Katharinenhof für 80 000 Reichsmark an Bruno Schumann verkauft; nur die 1916 hinzuerworbene Parzelle ging für 3 000 Reichsmark an den Reichsnährstand. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Wert des Gesamtobjekts laut einem Gutachten des Granseer Steuerberaters Pöhl 139 260 Reichsmark. Vom Kaufpreis wurden 50 000 Reichsmark sofort bezahlt und für die Tilgung der Schulden verwendet. Die restlichen 30 000 Reichsmark wurden für fünf Jahre gestundet. Nach Ablauf dieser Frist kassierte der NS-Staat diesen Betrag bei Bruno Schumanns Erbin ein. Die Geschwister Simon hatten nicht nur ihr Lebenswerk aufgeben müssen, Ihnen war auch jede Existenzgrundlage entzogen worden. Beide Frauen zogen zu ihrer Mutter nach Berlin.

Wenige Monate nachdem Eva und Katharina Simon den Katharinenhof verlassen hatten, erreichte die Judenverfolgung mit den durch Goebbels gesteuerten Ausschreitungen in der Nacht vom 9. zum 10.November 1938 einen neuen Höhepunkt. Unmittelbar danach, am 12. November 1938, leitete die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftleben“ die beschleunigte und nunmehr flächendeckende Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des deutschen Judentums ein. Eva und Katharina Simon lebten zu dieser Zeit in der Villa ihrer Mutter in Berlin-Dahlem. Auch dieses Haus wurde nun „arisiert“ und von der Luftwaffe übernommen. Alle drei Bewohnerinnen fanden ein Unterkommen in der Wohnung von Heinrich Simon am Hindenburgdamm.

Auch andere jüdische Bürger in Gransee verloren nun ihr Eigentum. Im Verlauf dieses Raubzugs ordnete das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Dezember 1938 eine Erfassung des gesamten landwirtschaftlichen Vermögens jüdischer Besitzer an. Die Ergebnisse dieser Erhebung, die sich bis in den folgenden Februar hinzog, sind erhalten geblieben. In der Provinz Brandenburg wurden 543 noch nicht „arisierte“ Besitzeinheiten mit insgesamt 7335 ha erfasst, die meisten davon im Berliner Umland. In einigen Kreisen Brandenburgs war das ursprünglich vorhandene jüdische Eigentum zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend „arisiert“. In der Ostprignitz gab es nur noch drei jüdische Besitzeinheiten, im Oberbarnim nur noch eine.

Im Kreis Ruppin, zu dem Gransee damals gehörte, scheint das Tempo der „Arisierung“ etwas geringer gewesen zu sein. Hier wurden noch 24 Besitzeinheiten mit zusammen 135 ha erfasst. Durch den Übereifer eines Beamten gerieten in diese Erfassung auch drei innerstädtische Grundstücke in der Granseer Friedrich-Wilhelm-Straße, der heutigen Rudolf-Breitscheid-Straße, obwohl diese Grundstücke mit landwirtschaftlicher Nutzung nichts zu tun hatten. Die damals, also im Februar 1939, noch im Grundbuch eingetragenen jüdischen Eigentümer waren: der Kaufmann Rafael Michaelis (Nr. 58 und Wallgarten), Albert Schaul (Nr. 34) und Hedwig Zweig, Berlin, (Nr. 65). Da die Hausnummern bis heute unverändert geblieben sind und auch die Gebäude kaum Veränderungen erfahren haben, kann man sich heute noch ein Bild von diesem Besitz des damaligen jüdischen Bürgertums in der Stadt machen. Ein älterer ehemaliger Granseer erinnert sich daran, dass Arnold Zweig im Haus Nr. 65 ein Konfektionsgeschäft betrieb. Auch das Haus Nr. 34 soll ein Konfektionsgeschäft (mit dem Namen Katz) enthalten haben. Dieser Name war im jüdischen Bevölkerungsteil Deutschlands damals häufig vertreten, so dass der Geschäftsinhaber vermutlich ebenfalls Jude war.

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Das weitere Schicksal der Schwestern Simon

Viele Juden sahen im nationalsozialistischen Antisemitismus nur einen vorübergehenden Rückschlag in dem langen Emanzipationsprozess, der schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Sie dachten deshalb nicht – oder erst zu spät – an eine Auswanderung, vielfach auch, weil sie sich als Deutsche fühlten. Andere machten sich Sorgen, ob sie im Ausland überhaupt eine Existenzgrundlage finden würden. Auch war die Aufnahmebereitschaft für Einwanderer in den meisten Ländern eng begrenzt. So waren es in vielen jüdischen Familien überwiegend Angehörige der jüngeren Generation, die den nationalsozialistischen Machtbereich noch rechtzeitig verließen. Für zwei taubstumme Frauen schien ein solcher Weg kaum gangbar.

Eva und Katharina Simon wohnten, nachdem sie zuerst Gransee und wenig später auch das Haus ihrer Mutter hatten verlassen müssen, zunächst bei ihrem Bruder Heinrich Simon und dessen Frau Irmgard. Dieser Bruder wurde als erster aus der Familie Simon ein Opfer des Naziterrors. Er wurde am 22. April 1942 verhaftet und am 28. Mai im Gestapogefängnis an der Keibelstraße ermordet. Eva und Katharina Simon wurden gemeinsam mit ihrer Mutter am 3. Oktober 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo Hedwig Simon am 1. April 1943 starb. Eva und Katharina Simon mussten im Mai 1944 den Weg von Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz antreten, wo sie vermutlich im Juli 1944 ermordet wurden.

Das Ehepaar Heinrich und Irmgard Simon hatte sechs Kinder. Der älteste Sohn hatte Deutschland verlassen und lebte später in Chile. Eine Tochter (Ulla) war in England verheiratet. Den Eltern gelang es, eine zweite Tochter (Judith) dorthin zu schicken. Zwei weitere Töchter wurden nach Theresienstadt deportiert, wo eine von ihnen überlebte. Der jüngste Sohn wurde in Auschwitz ermordet. Irmgard Simon, die nicht jüdischer Abstammung war, konnte in Berlin bleiben, überlebte dort den Krieg und zog später nach London. Durch sie konnte eine Reihe von Familienpapieren und Fotos gerettet werden. Diese werden heute von ihrer Tochter Judith verwahrt. Judith Simon studierte in den 1950er Jahren an der London School of Economics und lernte dort den US-Bürger Thomas Klein kennen, den sie später heiratete. Beide leben heute in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten.

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Der Katharinenhof als Landsitz  für Rudolf Nadolny

Bruno Schumann, der den Katharinenhof im Sommer 1938 übernommen hatte, starb bereits Ende 1940. Seine Tochter Martha Deußen, die das Erbe für die noch nicht volljährige Enkelin Charlotte verwaltete, verpachtete den Katharinenhof im Frühjahr 1941 an den Botschafter a.D. Rudolf Nadolny, der in seiner Amtszeit zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Diplomatie gehört hatte. Der neue Pächter nutzte jedoch nur das Gebäude; die Plantage wurde an einen Herrn Henning verpachtet. Dieses Pachtverhältnis bestand aber nur ein oder zwei Jahre; dann übernahm der Obstbaubetrieb Metzenthin die Bewirtschaftung.

Mit dem Einzug von Rudolf Nadolny änderte sich das Leben im Katharinenhof von Grund auf. Die dunklen Limousinen mit Berliner Kennzeichen waren fortan nichts Ungewöhnliches auf dem Anwesen.  Rudolf Nadolny, ehemals einer der Spitzendiplomaten des Deutschen Reiches, empfing hier gemeinsam mit seiner Frau die Besucher, seine Freunde aus dem Auswärtigen Amt, die Familie von Arnim aus Zernikow, den Landrat aus Neuruppin und viele andere aus dem weit gespannten Netzwerk persönlicher Beziehungen, das der Gastgeber auch nach der Ablösung von seinem Posten als Botschafter in Moskau mit unverminderter Sorgfalt pflegte.

Auch sein Sohn Burkhard und seine Schwiegertochter Isabella, geb. Peltzer, eine gebürtige Münchenerin, waren nicht selten auf dem Katharinenhof. So ergab es sich denn auch, dass der Enkel Sten Alexander ganz in der Nähe, in Zehdenick, am 28. Juli 1942 das Licht der Welt erblickte. Gransee hatte damals noch kein Krankenhaus. Diesem Enkel verdanken wir heute den tieferen Einblick in einen wichtigen Lebensabschnitt seines Großvaters, denn der Autor der „Entdeckung der Langsamkeit“ begann seine literarische Karriere nicht mit einem Roman oder einer Novelle, sondern mit einer wissenschaftlichen Arbeit über die Rolle des Deutschen Reiches auf der Genfer Abrüstungskonferenz von 1932/33. Leiter der deutschen Delegation war damals sein Großvater.

Rudolf Nadolny wurde 1873 in einer ostpreußischen Bauernfamilie geboren. Er studierte Jura, lernte Französisch und Russisch und erwarb sich auf diese Weise das erste Handwerkszeug für seinen späteren Beruf. Seine Bewerbung für den konsularischen Dienst hatte Erfolg. Für den jungen Juristen war dies eine notwendige Zwischenstation, denn im kaiserlichen Deutschland blieb das diplomatische Parkett praktisch dem Adel vorbehalten. Verschiedene Tätigkeiten in der Berliner Wilhelmstraße und im Petersburger Generalkonsulat wechselten einander ab.

Die Arbeit in den Amtsstuben befriedigte den umtriebigen jungen Mann auf die Dauer nicht. So wurde er gelegentlich mit Sondermissionen betraut, die häufig einen etwas abenteuerlichen Anstrich hatten. So reiste er Anfang 1913 in den Hauptort des damals von Russland besetzten persischen Teils des Aserbaidshan, Täbris. Kurz danach, im Sommer 1913, vertrat er den deutschen Konsul in Sarajevo. Im November des gleichen Jahres wurde Rudolf Nadolny als Vertreter des Reiches in die internationale Kontrollkommission für Albanien entsandt. Der dortige Fürst, der ein deutscher Prinz war, behielt Nadolny bis zum Juni 1914 als Berater.

Wie man sieht, war Nadolny in der Zeit vor den Schüssen von Sarajevo, die den ersten Weltkrieg auslösten, auffallend oft an solchen Punkten des Balkans und des Nahen Ostens tätig, die schon im Visier der deutschen Expansionsbestrebungen lagen und auf die eine oder andere Weise mit dem Stichwort „Bagdadbahn“ verbunden sind. Wenn nicht schon damals erste Kontakte zum Geheimdienst geknüpft wurden, so war doch Nadolny der geeignete Mann, seine Kenntnisse und Fähigkeiten nach Kriegsbeginn in dieses Tätigkeitsfeld einzubringen. Wir finden ihn denn auch bald in der Abteilung IIIb des preußisch-deutschen Generalstabs. Dies war die Bezeichnung für den Geheimdienst des Heeres. Hier war Hauptmann Nadolny für den Sektor Politik zuständig.

Seine weit gespannte Tätigkeit hatte das Ziel, nationale Befreiungsbewegungen von Finnland über Georgien und den Nahen Osten bis Marokko gegen die russische, britische oder französische Oberherrschaft zu mobilisieren. Für dieses Ziel sollten unter anderem auch Kriegsgefangene rekrutiert werden. Nadolny sorgte dafür, dass diese in zwei Lagern bei  Zossen und bei Wünsdorf konzentriert wurden. Dort ließ er sogar eine stattliche Moschee, die erste in Deutschland, bauen .

Die wohl abenteuerlichste Mission seines Lebens führte Nadolny im Sommer 1916 nach Kermanschah (Bakhtaran), dem Sitz der provisorischen Regierung im türkisch besetzten Teil Persiens. Bis Mossul im heutigen Irak gelangte man noch mit der Bahn bzw. im Wagen. Von dort ging es tagelang den Tigris hinab auf einem Floß, das durch luftgefüllte Ziegenbälge getragen wurde, bis Samara, wo sich ein langer und beschwerlicher Ritt durch die Berge anschloss. Als die mit Deutschland verbündete Türkei im Frühjahr 1917 ihre Positionen in Persien und teils auch im Zweistromland räumen musste, gelang es Nadolny, sich wieder nach Mossul durchzuschlagen. Im November 1917 war er zurück in Berlin, gerade rechtzeitig, um die ersten Fäden zur eben gebildeten Sowjetregierung aufzunehmen. Ab Dezember saß Nadolny dann als Mitglied der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest Trotzki gegenüber.

Rudolf Nadolny galt als Mann schneller Entschlüsse, und so verwundert es nicht, dass er  nach der Novemberrevolution dem Kaiserreich nicht lange nachtrauerte. Diesmal war es Friedrich Ebert, der erste Präsident der Weimarer Republik, der den vielseitig befähigten Mann zu sich holte und ihn mit der Leitung und Organisation seines Büros beauftragte. Auch dort blieb er nicht lange. Immer dann, wenn Routine einzukehren drohte, hielt es Nadolny nicht mehr auf seinem Sessel. Im Februar 1920 ging er an die Spitze der diplomatischen Vertretung in Schweden, einige Jahre später in die Türkei. Inzwischen in den Rang eines Botschafters aufgerückt, konnte er sich Hoffnungen auf den Posten des Außenministers machen.

Die Ambitionen auf das Ministeramt erfüllten sich nicht. Stattdessen wurde Nadolny im Februar 1932 als Leiter der deutschen Delegation zur Abrüstungskonferenz nach Genf geschickt. Hier stand er im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, denn dies war die größte politische Konferenz zwischen den beiden Weltkriegen. Sie musste scheitern, weil die Interessengegensätze der teilnehmenden Staaten letztlich unüberbrückbar waren. Zudem verlor die deutsche Außenpolitik nach dem Machtantritt Hitlers rasch an Vertrauen im Ausland, woran auch der Delegationsleiter nichts ändern konnte. Nadolny galt als geschickter, aber auch hartnäckiger Unterhändler. Sein Auftreten entsprach nicht immer der feinen, diplomatischen Art, so dass er in Konferenzkreisen gelegentlich mit einem „deutschen Polizisten“ verglichen wurde. In diese Zeit fällt auch seine erste heftige Auseinandersetzung mit Hitler, den er vergeblich von einem erhofften positiven Ergebnis der Konferenz zu überzeugen versuchte.

Am 14. Oktober 1933 verließ Deutschland die Konferenz und kurz danach auch den Völkerbund. Anschließend ging Nadolny als Botschafter nach Moskau. Das war der Posten, auf dem Nadolny unter günstigeren Umständen sicher Bedeutendes hätte leisten können. So wie die Dinge lagen, musste es bald zum Bruch mit Hitler kommen. Nadolny verließ Moskau nach wenigen Montan.

Einen neuen Posten erhielt der querköpfige Diplomat nicht. Hin und wieder hielt er Vorträge zu außenpolitischen Themen, bis ihm 1937 auch dies verboten wurde. Seine rastlose Natur suchte nach einer neuen Aufgabe. Nadolny besann sich auf seine bäuerlichen Wurzeln und erwarb das Gut Briesen in der Uckermark. Bei Beginn des zweiten Weltkriegs fand er seinen Platz als Major der Reserve im Amt Ausland/Abwehr unter Leitung des Admirals Canaris. Es heißt heute, diesen Posten habe Nadolny nach dem Überfall auf die Sowjetunion aufgegeben. Andererseits hat er selbst später in seinen Lebenserinnerungen über zwei ausgedehnte Reisen in die besetzten sowjetischen Gebiete berichtet, ohne Auftraggeber und Zielsetzung  dieser gewiss nicht privaten Unternehmungen zu nennen.

Inzwischen hatte Nadolny im Frühjahr 1941 das Gut Briesen wieder verkauft. Jetzt pachtete er von der bereits erwähnten Frau Deußen den Katharinenhof, ein etwa 5 Hektar großes Obstgut am Rande von Gransee. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Ehepaars Nadolny, nach Gransee zu ziehen, war vielleicht die größere Nähe zur Hauptstadt und damit der nun mögliche engere Kontakt zu Freunden und Bekannten, zu den eigenen Kindern und Enkelkindern.

Das recht stattliche Gebäude am Meseberger Weg genügte den Ansprüchen des prominenten neuen Pächters nicht. Als erstes stellte er den Antrag, es um ein „Arbeitszimmer“ zu erweitern. Dies wurde selbstverständlich umgehend genehmigt. Ein weiteres Bauvorhaben, für das Rudolf Nadolny im folgenden Jahr einen Antrag stellte, wurde ihm verweigert. Der Umgangston der örtlichen Machthaber mit dem Botschafter a.D. veränderte sich. In den Akten spiegelt sich wieder, wie aus der zunächst geachteten „Exzellenz“ im Lauf der Zeit einfach „Nadolny“ wurde.

Der zunächst recht rege Besucherverkehr zwischen Berlin und dem Katharinenhof wurde nach und nach immer mehr eingeschränkt, zuerst wegen der zunehmenden Bombardierungen, nach dem 20. Juli 1944 auch wegen der mehr und mehr um sich greifenden Atmosphäre des Misstrauens. Die Botschafterkollegen und Freunde Friedrich Werner von der Schulenburg, Nadolnys Nachfolger in Moskau, und Ulrich von Hassell waren verhaftet und in Plötzensee ermordet worden.

Aus einer Stätte freundschaftlicher Begegnungen wurde bald ein Zufluchtsort für die Familie. Aus Bernburg kamen Tochter und Enkelkinder für zwei Jahre auf den Katharinenhof; im Frühjahr 1945 traf aus Königsberg ein Bruder mit seiner Frau ein. Ende April 1945, als so mancher aus der Umgebung Nadolnys seine Koffer packte, um sich westwärts aus dem Staube zu machen, blieb er im Katharinenhof, nahm auch noch Gutsherren aus der Umgebung bei sich auf. In den letzten Tagen des Dritten Reiches befehligte der SS-General Felix Steiner die deutschen Truppen in diesem Abschnitt. Nadolny hat später über zwei Zusammenkünfte mit dem General berichtet. Bei der zweiten Begegnung, am Nachmittag des 27. April, habe er, Nadolny, Steiner dazu bewogen,  sich noch in der Nacht weiter nach Westen zurückzuziehen. Welchen Anteil dieses Gespräch letztendlich an der kampflosen Räumung der Stadt gehabt haben mag, bleibt dahingestellt.

Nach den ersten, unruhigen Wochen der sowjetischen Besetzung, die auch für Nadolny mit Festnahme und Vernehmungen begleitet waren, wurde er im Juni 1945 auf Initiative Sauerbruchs an die Spitze des DRK berufen. Doch schon im Oktober lösten die Sowjets die Hauptverwaltung des DRK auf und schickten Nadolny nach Hause. Erst später kam es zu erneuten Kontakten Nadolnys mit Karlshorst. Gespräche mit dem Chef der SMAD, Semjonow, und dessen diplomatischen Mitarbeitern folgten. Nadolnys Anliegen war es, Deutschland recht bald wieder außenpolitisch handlungsfähig zu machen, wobei das Land eine neutrale, zwischen Ost und West vermittelnde Position einnehmen sollte. Um dafür die Ausgangsbedingungen zu schaffen, setzte sich Nadolny für eine baldige Entlassung der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten ein.

Im Sommer 1948 verließ Rudolf Nadolny den Katharinenhof, nachdem er sich bereits vorher (seit 1947) abwechselnd in Berlin (West) und Gransee aufgehalten hatte. In Westdeutschland. versuchte er, zahlreiche Persönlichkeiten für seine Ideen zu gewinnen und war auch publizistisch tätig. Mit dem ehemaligen Reichsminister Andreas Hermes gründete er 1950 die Gesellschaft zur Wiedervereinigung Deutschlands. Auch hier scheiterte Nadolny schließlich an den durch die Westmächte und Adenauer inzwischen geschaffenen Realitäten. Im Jahr darauf zog sich Nadolny aus dem politischen Leben zurück. Er starb am 19. Mai 1953 in Düsseldorf.

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Der Katharinenhof  in der Zeit nach 1948

Kurz bevor Rudolf Nadolny den Katharinenhof endgültig verließ, war auch der Pächter der Plantage gestorben. Nun verlegte Martha Deußen ihren Wohnsitz von Hoppegarten nach Gransee und übernahm die Bewirtschaftung des Katharinenhofs selbst, jedoch mit wenig Erfolg. Wegen der ständig wiederkehrenden Probleme, die sie mit der Erfüllung des Abgabesolls hatte, dachte man in der Stadtverwaltung bereits über eine Zwangsverpachtung nach. In dieser Situation schloss Martha Deußen (im Auftrag ihrer inzwischen volljährigen Tochter Charlotte) einen Pachtvertrag mit dem 21jährigen Gärtner Erhard Wolter ab, der das Objekt am 26. November 1952 übernahm. Im gleichen Jahr war in unmittelbarer Nachbarschaft das Granseer Krankenhaus in Betrieb genommen worden. Wohnungen im Katharinenhof wurden an Ärzte und Schwestern vergeben.

Die Plantage ging 1961 an die neu gebildete Gärtnerische Produktionsgenossenschaft über, die Erhard Wolter zu ihrem Vorsitzenden wählte. Die Verantwortung für den Katharinenhof übernahm bis in die 1970er Jahre der Gärtnermeister Kurt Bauer, der mit seiner Familie auch auf dem Katharinenhof wohnte. Die Gewächshäuser, die Erhard Wolter noch in seiner Pachtzeit wieder instand gesetzt hatte, wurden in den 1970er Jahren abgerissen. 1963 hatte Erhard Wolter sich ein Einfamilienhaus am Meseberger Weg gebaut. Nach dem Auszug von Erhard Wolter und später der Familie Bauer standen die Wohnungen im Katharinenhof vollzählig dem Krankenhaus zur Verfügung. Wohnraum für weitere Mitarbeiter wurde durch Um- und Ausbaumaßnahmen geschaffen.

Zu Anfang der 1990er Jahre kam die gärtnerische Bewirtschaftung des Katharinenhofs zum Erliegen. Auch das Personal des Krankenhauses zog nach und nach aus. Das Eigentum an Haus und Grundstück wurde den im Ausland lebenden Erben von Katharina Simon zurückgegeben, und die Wohnungsbaugesellschaft Gransee übernahm die Verwaltung. Mit der Zeit stellte es sich als Problem heraus, unter den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen für den Katharinenhof Mieter oder Käufer zu finden. Ein Stück Granseer Geschichte fiel in den Dornröschenschlaf.

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Nachwort

Bis zu Beginn des Jahres 2005 war das Schicksal von Eva und Katharina Simon in Gransee fast völlig in Vergessenheit geraten. In keiner Publikation über die Geschichte der Stadt fanden sich ihre Namen; auch die umfangreiche, bisher nicht veröffentlichte Chronik von Thiede nennt die beiden Schwestern nicht. Rudolf Nadolny hat zwar in seinen Lebenserinnerungen die beiden taubstummen jüdischen Schwestern erwähnt (ohne ihre Namen zu nennen), er verwischte aber ihre Spuren, wenn auch unabsichtlich, durch seine Aussage, die beiden Schwestern hätten Deutschland im Jahr 1933 verlassen. Wenn trotzdem die Geschichte der Simon-Schwestern der Vergessenheit wieder weitgehend entrissen werden konnte, so ist dies der bereitwilligen Unterstützung zu verdanken, die ich von vielen Seiten erhalten habe. Bereits Ende 2004, nachdem in der lokalen Presse ein Beitrag von mir über Rudolf Nadolny erschienen war, erhielt ich von einem Leser einen ersten Hinweis.

Mein Dank gilt ganz besonders Frau Barbara Erdmann (Berlin), die durch ihre anwaltliche Tätigkeit für die Familie Simon und auf Grund ihrer daraus erwachsenen freundschaftlichen Verbundenheit mit noch lebenden Angehörigen meine Arbeit über einen längeren Zeitraum durch Bereitstellung von Dokumenten und Informationen unterstützen konnte. Ihr verdanke ich auch, dass sie den Kontakt zu Frau Judith Klein, geb. Simon, (Washington D.C.) und weiteren Angehörigen hergestellt und deren Besuch in Gransee am 1. Juni 2005 in die Wege geleitet hat. Frau Judith Klein verdanke ich eine anschauliche Schilderung ihrer Erlebnisse als Kind auf dem Katharinenhof sowie eine Reihe von Familienfotos.

Besonderer Dank gilt auch Frau Martha Spuddig (Gransee), die aus ihrer Erinnerung als Kind des Kutschers Otto Reuß über interessante Einzelheiten der „Arisierung“ berichten konnte und Fotos aus dieser Zeit zur Verfügung gestellt hat. Für weitere wertvolle Informationen und Hinweise danke ich Christian Ahlrep (Zehdenick), Hans-Jürgen Lamprecht (Kirchheim/Teck), Prof. Dr. Heinrich Schoof (Karlsruhe), Mario Gruschinske, Horst Hirtzel, Elke Kirste, Werner Lehmann, Karola Meinke, Udo Tutsch und Erhard Wolter (alle Gransee).

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letzte Änderung: 18.12.2015